Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
eingerichtet.« Ich beherrschte mich nach Kräften und versuchte, nicht das anzuwenden, was eine Englischlehrerin vermutlich die schreiende Anklageform nennen würde. Berlyn mußte es am Rande mitbekommen haben, da sie nickte und sich bemühte, bescheiden und reumütig auszusehen. Was auch immer sie sich in den zehn Monaten seit Lornas Tod eingeredet hatte — jetzt, wo sie es mir erklärte, hörte es sich vermutlich anders an.
»Hatten Sie denn keine Angst, daß Ihre Fingerabdrücke in ihrer Hütte gefunden würden?« fragte ich.
»Eigentlich nicht. Ich habe alles abgewischt, was ich angefaßt habe, damit meine Abdrücke nicht darauf sind, aber ich dachte mir, auch wenn es aufflog, hätte ich schließlich ein Recht darauf, dort gewesen zu sein. Schließlich bin ich ihre Schwester. Ich war oft bei ihr. Und überhaupt, wie will man denn nachweisen, von wann ein Fingerabdruck stammt?«
»Es überrascht mich, daß Sie sich nicht neu eingekleidet oder ein Auto gekauft haben.«
»Das wäre nicht richtig gewesen. Darum habe ich Lorna nicht gebeten.«
»Sie haben sie auch nicht um ihren Schmuck gebeten«, sagte ich scharf.
»Ich schätze, Lorna hätte nichts dagegen. Ich meine, was sollte es sie kümmern? Ich war so untröstlich, als ich sie gefunden habe.« Sie brach den Blickkontakt ab, und ihr Gesicht bekam einen betrübten Ausdruck. »Und überhaupt, warum hätte sie mir das übelnehmen sollen, wenn sie damals sowieso nichts mehr tun konnte?«
»Sie wissen, daß Sie gegen das Gesetz verstoßen haben.«
»Ja?«
»Genauer gesagt haben Sie gegen einige Gesetze verstoßen«, sagte ich liebenswürdig. Ich merkte, wie meine Wut anschwoll. Es war, als stünde ich kurz davor, mich zu übergeben. Ich hätte meinen Mund halten sollen, weil ich merkte, wie ich die Beherrschung verlor. »Aber der Punkt ist doch folgender, Berlyn. Ich meine, abgesehen von Diebstahl, Unterschlagung von Beweismitteln, Manipulation des Tatorts, Behinderung der Justiz und Gott weiß, welche weiteren Gesetze Sie gebrochen haben, haben Sie die Ermittlungen im Mord an Ihrer Schwester komplett versaut! Irgendein Dreckskerl läuft in dieser Minute frei wie ein Vogel da draußen herum, und zwar Ihretwegen, kapieren Sie das? Wie bescheuert sind Sie eigentlich?«
Nun fing sie endlich richtig zu weinen an.
Ich beugte mich über sie und machte die Beifahrertür auf. »Steigen Sie aus. Gehen Sie nach Hause«, sagte ich. »Oder besser, gehen Sie zu Frankie’s und erzählen Sie Ihrer Mutter, was Sie gemacht haben, bevor es in meinem Bericht steht.«
Mit roter Nase und über die Wangen laufender Wimperntusche drehte sie sich zu mir, fast atemlos wegen meines Verrats. »Aber ich habe es Ihnen unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut. Sie haben gesagt, Sie würden es nicht weitererzählen.«
»Das habe ich nicht ausdrücklich gesagt, und wenn ich es gesagt habe, war es gelogen. Ich bin eine ziemlich niederträchtige Person. Tut mir leid, wenn Sie das nicht begriffen haben. Und jetzt verlassen Sie mein Auto.«
Sie stieg aus und knallte die Tür zu. Ihr Kummer hatte sich in knapp zehn Sekunden in Wut verwandelt. Sie hielt ihr Gesicht dicht ans Fenster und brüllte: »Miststück!«
Ich ließ den Wagen an und stieß rückwärts aus der Parklücke, so wütend, daß ich sie dabei beinahe überfahren hätte.
Ich begann, in der Hoffnung, irgendwo auf Cheney Phillips zu stoßen, das Viertel abzufahren. Vielleicht hatte er Bereitschaftsdienst und machte sittenpolizeiliche Hausbesuche wie ein Arzt. Vor allem brauchte ich aber irgendeine Beschäftigung, während ich mir die Konsequenzen dessen durch den Kopf gehen ließ, was Berlyn gesagt hatte. Kein Wunder, daß J. D. nervös war und tat, was er konnte, um Tag und Zeit seiner gemeinsamen Abreise mit Leda zu fixieren. Wenn Lorna am Freitag abend oder am Samstag ermordet worden war, waren sie aus dem Schneider. Datierte man das Ganze um einen Tag zurück, war alles wieder offen.
Ich fuhr den Cabana hinunter in Richtung CC’s. Vielleicht hielt sich Cheney dort auf. Es war noch nicht ganz Mitternacht. Der Wind hatte aufgefrischt und rauschte so laut durch die Bäume wie bei einem Sturm, obwohl kein Regen fiel. Die Brandung war aufgepeitscht, und wilde Gischt sprühte von den Wellen, wenn sie gegen den Strand schlugen. In einer linken Seitenstraße hörte ich eine Autoalarmanlage losgehen, und das Geräusch drang durch die Nacht wie das Heulen eines Wolfs. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie ein vertrockneter
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