Kinsey Millhone 14 - Kopf in der Schlinge - N wie Niedertracht
hingerissen von Barrett. Soweit ich weiß, fand er, dass sie einen guten Einfluß auf Brant hatte.«
»Hat Brant ein Problem?« »Eigentlich ist er ein anständiger Kerl. Er war nur damals verkorkst wie viele Jugendliche seines Alters. Ich glaube zwar nicht, dass er je Drogen genommen hat, aber er hat ziemlich viel getrunken und bei jeder Gelegenheit rebelliert.« »Warum haben sich die beiden getrennt?«
»Das müßten Sie Barrett fragen. Ich mische mich nicht gern in ihre Angelegenheiten ein. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, würde ich sagen, dass Brant für jemanden wie Barrett zu bedürftig und zu abhängig war. Er neigte dazu, Trübsal zu blasen und zu klammern. Natürlich ist das Jahre her. Damals war er zwanzig. Sie hatte gerade die High-School abgeschlossen und wollte nicht gleich eine ernste Beziehung eingehen.« Ihre Ausführungen wurden unterbrochen, als der Arzt hereinkam. Dr. Price war Ende Zwanzig, mager und jungenhaft, hatte leuchtendblaue Augen, große Ohren, dunkles, kastanienbraunes Haar und einen blassen Teint mit Sommersprossen. Ich sah noch den Abdruck auf seiner Wange, wo er sein Kissen im Schlaf zusammengeknüllt hatte. Ich stellte mir vor, dass das gesamte Ambulanzpersonal irgendwo auf kleinen Pritschen schlummerte. Er trug einen grünen OP-Anzug und darüber einen weißen Kittel, in dessen Brusttasche das Stethoskop zusammengerollt lag wie eine zahme Schlange. Ich fragte mich, warum er in einem so kleinen Krankenhaus gelandet war. Ich hoffte, nicht deshalb, weil er sein Medizinstudium als einer der Schlechtesten abgeschlossen hatte. Er warf einen Blick auf meine Finger und sagte: »O Mann! Wahnsinn!« Seine Begeisterung gefiel mir.
Wir unterhielten uns über meinen Angreifer und das, was er angerichtet hatte.
Der Arzt musterte mein Kinn. »Der muß Ihnen ganz schön eine gelangt haben«, sagte er.
»Allerdings. Das hatte ich ganz vergessen. Wie sieht es denn aus?«
»Als hätten Sie an der falschen Stelle Lidschatten aufgetragen. Haben Sie noch weitere Schürfwunden oder Kontusionen? Entschuldigung«, fuhr er fort, »ich meine, kleine Verletzungen irgendwo am Körper.«
»Er hat mich zweimal in die Rippen getreten.«
»Schauen wir mal nach«, sagte er und zog mir das Hemd hoch.
Mein Brustkorb hatte sich auf der rechten Seite ziemlich schnell violett
verfärbt. Der Arzt hörte mir die Lungen ab, um sich zu vergewissern, dass durch den Stoß keine gebrochene Rippe eingedrungen war. Er tastete meinen rechten Arm ab, Handgelenk, Hand und Finger und gab mir dann einen Schnellkurs über Gelenke, Bänder, Sehnen und was genau passiert, wenn jemand sie auseinanderzerrt. Dann trotteten wir in den Nebenraum, wo mir eine zerzauste Röntgenassistentin Brustkorb und Hand röntgte. Ich kehrte zur Untersuchungsliege zurück und legte mich wieder hin. Ich fühlte mich reichlich durchgeschüttelt, und der Raum begann sich um mich zu drehen. Als der Film entwickelt war, bat mich der Arzt auf den Flur hinaus, wo er die einzelnen Aufnahmen vor die Leuchttafel klemmte. Vicky trat zu uns. Wir standen alle drei da und studierten die Ergebnisse. Ich fühlte mich wie eine Kollegin, die zur Konsultation über einen schwierigen Fall gebeten worden ist.
Meine Rippen waren gequetscht, aber nicht gebrochen, und würden vermutlich noch ein paar Tage schmerzen, erforderten aber keine ärztliche Behandlung. Röntgenologisch gesprochen waren die zwei geschundenen Finger völlig verdreht. Ich sah, dass keine Knochen gebrochen waren, allerdings wies mich Dr. Price auf zwei kleine Splitter hin, von denen er aber meinte, dass mein Körper sie schnell wieder eingliedern werde. Ich ging zum Tisch zurück, wo ich mich erleichtert wieder hinlegte. Mein Po schmerzte noch von der Tetanusspritze, daher spürte ich es kaum, als der Arzt mich unter fröhlichem Pfeifen mehrmals in die Gelenke beider Finger stach. Inzwischen war es mir egal geworden. Was auch immer sie anstellten, ich war viel zu weggetreten, um es noch mitzukriegen. Während ich an die Wand starrte, manövrierte der Arzt meine Finger in ihre gewohnte aufrechte Position zurück. Danach verließ er kurz den Raum. Als ich es schließlich wagte, den Blick auf meine Hand zu richten, sah ich, dass die verletzten Finger nun dick und rot waren. Sie ließen sich nun zwar wieder beugen, doch die Knöchel waren geschwollen wie bei einem plötzlichen Anfall von rheumatoider Arthritis. Ich legte meinen Mund an das heiße, taube Fleisch wie eine Mutter, die das Fieber
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