Kinsey Millhone 14 - Kopf in der Schlinge - N wie Niedertracht
Stuhl war umgekippt, und der geflochtene Teppich lag schief. Ordnungsliebend, wie ich bin, richtete ich den Stuhl auf, schob den Teppich an seinen Platz zurück und stellte das Bügeleisen mit herabbaumelndem Kabel wieder aufs oberste Brett im Schrank. Jetzt mußte ich mich nur noch um mich selbst kümmern. Unter Mühen schloß ich mit der ungeübten linken Hand die Hütte ab und ging Richtung Motelrezeption. Die Nacht war kalt, und leichtes Schneetreiben streichelte mein Gesicht. Ich sog tief die Kälte ein, und die feuchte Luft belebte mich etwas. Vorn an der Straße sah ich das »Zimmer frei«-Schild des Motels leuchten, ein roter Neonpfeil, der seine Einladung an durchreisende Autofahrer richtete. Auf der Landstraße herrschte keinerlei Verkehr. In keiner der anderen Hütten war irgendein Hinweis auf Leben zu erkennen. Durch das Fenster des Büros sah ich eine Tischlampe leuchten und ging hinein. Ich lehnte mich gegen den Türrahmen, während ich an Cecilias Tür klopfte. Lange Minuten verstrichen. Endlich öffnete sich die Tür einen Spaltweit, und Cecilia spähte heraus.
In meinen Ohren hörte ich das anschwellende Rauschen eines drohenden Ohnmachtsanfalls. Ich sehnte mich danach, mich hinzusetzen und den Kopf zwischen die Knie zu stecken. Ich holte tief Luft und schüttelte den Kopf in der Hoffnung, ihn dadurch klar zu bekommen. Mit nach wie vor zusammengekniffenen Augen band Cecilia den Gürtel ihres pinkfarbenen Chenille-Bademantels zu. »Was ist denn los?« fragte sie ungehalten. »Was haben Sie denn?«
Ich hielt meine Hand in die Höhe. »Ich brauche Hilfe.«
12
Cecilia wählte die Notrufnummer und meldete den Einbruch und den anschließenden Überfall. Der diensthabende Beamte sagte, er werde einen Krankenwagen schicken, aber Cecilia versicherte ihm, sie habe mich ebenso schnell ins Krankenhaus gefahren, wie die Sanitäter brauchen würden, bis sie hier wären. Sie schlüpfte in Jogginganzug, Mantel und Laufschuhe und setzte mich in ihr Schiff von einem Oldsmobile. Ich muß ihr zugute halten, dass sie über meine Verletzung ehrlich besorgt zu sein schien, da sie mich gelegentlich tätschelte und Dinge sagte wie: »Ganz ruhig jetzt. Es wird alles wieder gut. Wir sind gleich da. Es ist nur ein Stück die Straße runter.« Sie fuhr mit übertriebener Sorgfalt, beide Hände am Lenkrad und das Kinn erhoben, damit sie über dessen Rand sehen konnte. Nicht ein einziges Mal fuhr sie schneller als sechzig Stundenkilometer, und sie löste das Problem, auf welcher Spur sie fahren sollte, dadurch, dass sie je eine Hälfte des Autos auf einer von beiden hielt. Ich empfand keinen Schmerz mehr. Irgendein natürliches Betäubungsmittel war durch meinen Kreislauf geflossen und hatte mich ganz benommen gemacht. Ich lehnte den Kopf gegen den Sitz zurück. Besorgt musterte sie mich, gewiß in der Befürchtung, ich würde auf ihre schwer zu reinigenden Sitzpolster kotzen.
»Sie sind kreidebleich«, sagte sie. Sie drückte auf den Knopf für die Fensterheber und ließ die Scheibe halb herunter, so dass mir ein breiter Strom eisiger Luft ins Gesicht schlug. Die Straße glänzte vor Feuchtigkeit, und der Schnee wehte in diagonalen Linien über die Fahrbahn. Zu dieser Stunde lag eine beruhigende Stille über der Landschaft. Bis jetzt blieb der Schnee zwar nicht liegen, aber ich konnte einen dünnen, weißen Überzug auf Baumstämmen und eine lockere Ansammlung auf den toten, unkrautüberwucherten Feldern erkennen.
Das Krankenhaus war lang und flach, ein einstöckiges Gebäude, das sich in einer geraden Linie erstreckte. Die Fassade war eine Mischung aus Backstein und Verputz, und darüber erhob sich ein Schindeldach aus Dachpappe. Die Parkfläche vor dem Eingang zur Ambulanz wirkte verlassen. Die Notaufnahme war leer, obwohl sich die paar guten Seelen, die Dienst hatten, aufrafften und bald erschienen. Eine davon war eine Verwaltungsangestellte, auf deren Namensschild L . Lippincott stand. Ich rätselte: Lucille, Louise, Lillian, Lula.
Ms. Lippincotts Blick wandte sich von meinem stachligen Fingerbukett ab. »Wie sind Sie gestürzt?«
»Gar nicht. Ich wurde überfallen«, erwiderte ich und berichtete ihr in abgekürzter Version von dem Angriff.
Ihr Gesichtsausdruck ging von Widerwillen zu Skepsis über, als müßten zwangsläufig Teile der Geschichte fehlen, die ich absichtlich unterschlug.
Vielleicht phantasierte sie von einer bizarren Form der Selbstbefriedigung oder von Sado-Maso-Techniken, die zu schlimm waren, um
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