Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
waren ausnahmslos die gleichen Camel Filters, die er schon vor Jahren geraucht hatte, und keine trug den verräterischen roten Rand, der von Damenbesuch gezeugt hätte. Ein Taschenbuchkrimi von Elmore Leonard war auf der Armlehne des Sofas liegen geblieben, in der Mitte aufgeschlagen. Mickey hatte mich mit Elmore Leonard und Len Deighton bekannt gemacht. Im Gegenzug hatte ich ihn auf Dick Francis aufmerksam gemacht, obwohl ich nie erfuhr, ob er den britischen Autor mit dem gleichen Vergnügen las wie ich. Die Wände waren mit einer provisorisch wirkenden Täfelung aus Kiefernholz verkleidet, die von den Teerrückständen der Zigaretten beinahe klebrig war. Wohn- und Esszimmer bildeten ein L: Die Möbel waren plump — wuchtige, übertrieben gepolsterte Stücke der Art, wie man sie auf einem Flohmarkt kaufen oder wie ein Schnorrer am Tag der Sperrmüllabfuhr vom Gehsteig mitnehmen konnte. An einer Wand stand ein Aktenvernichter, doch der Behälter war ausgeleert worden. Mickeys Weitsicht zufolge durfte kein Zettel, keine Quittung und kein einziger Brief in den Müll wandern, ohne vorher in kleinste Fetzen zerschnitten worden zu sein. Vermutlich leerte er den Behälter in regelmäßigen Abständen aus und benutzte mehrere Mülltonnen, damit ein Dieb, der bei ihm einbrach, keine Chance hätte, wichtige Dokumente wieder zusammenzustückeln. Der Mann war ohne jeden Zweifel verrückt.
Ich trat in die Essecke, vorbei an vier nicht zusammenpassenden Stühlen und einem schlichten Holztisch, der von Post überhäuft war. Ich blieb stehen und sah den Stapel durch, der am einen Ende lag. Ich sortierte die Umschläge absichtlich nicht, obwohl ich von Natur aus dazu neige, Rechnungen von Werbesendungen zu trennen. Ich entdeckte mehrere Kontoauszüge, doch es waren weder private Briefe noch Kataloge, noch Kreditkartenabrechnungen darunter. Seine Stromrechnung interessierte mich nicht. Was kümmerte es mich, wie viel Strom er verbrauchte? Ich war scharf auf eine Telefonrechnung, doch es war keine zu finden. Ich konnte mir denken, dass die Polizei schon alle mitgenommen hatte. Ich griff nach den Kontoauszügen und steckte sie vorne in meine Jeans, wo sie ein knisterndes Miederhöschen aus Papier bildeten. Ich würde sie mir später ansehen, wenn ich wieder zu Hause war. Keine der anderen Rechnungen schien mir hilfreich zu sein, also ließ ich sie, wo sie waren. Es war besser, die Strafe für Verletzung des Postgeheimnisses so gering wie möglich zu halten.
Ich trat in die neben der Essecke gelegene kleine Küche, die so schmal war, dass ich mit zwei Schritten die gegenüberliegende Wand erreicht hatte. Herd, Raum sparender Kühlschrank, Spüle, Mikrowelle. Das einzige Küchenfenster war klein und ging auf die Gasse hinaus. Auf der Arbeitsfläche stand ein rundes Goldfischglas, in das er am Ende jedes Abends die übrigen Streichholzbriefchen warf, eine Straßenkarte seiner Wanderung von einer Bar zur anderen. Die Oberschränke bargen ein bescheidenes Sortiment Melaminteller und Kaffeebecher, dazu die üblichen Grundnahrungsmittel: Frühstücksflocken, Milchpulver, Zucker, ein paar Gewürze, Papierservietten und zwei versiegelte Flaschen Early-Times-Bourbon. Die Unterschränke waren randvoll mit Konserven: Suppen, Bohnen, Büchsenfleisch, Thunfisch in Öl, Tamales, Gabelspaghetti, Apfelsoße und Kondensmilch. In dem Fach unter der Spüle fand ich eine leere Bourbonflasche im Müll. Zwischen den Abflussrohren standen zehn Zwanzig-Liter-Kanister Trinkwasser. Das war Mickeys Überlebensvorrat für den Fall, dass der nächste Krieg ausbrach oder L.A. von Außerirdischen besetzt wurde. Der Kühlschrank war voll mit Dingen, die unangenehm rochen. Mickey hatte halb aufgegessene Sachen hineingeworfen, ohne sie ordentlich zu verpacken, und nun lagen da dunkle Brocken vertrockneten Cheddars, eine mit warzenartigen Keimen übersäte, grün angelaufene Kartoffel und eine halbe luftgetrocknete Tomate, die in sich selbst hineinschrumpelte.
Ich ging wieder zurück. Links vom Wohnzimmer befand sich die Tür zum Schlafzimmer, in dem ein Wandschrank und die Tür zu einem zu klein geratenen Badezimmer lagen. Die Kommode war mit den üblichen Unterhosen und T-Shirts, Socken und Taschentüchern gefüllt. Die Nachttischschublade barg ein paar interessante Gegenstände: ein Diaphragma und einen kleinen Parfümzerstäuber mit einem halb abgerissenen Preisetikett auf der Unterseite. Das Duftwasser war offenbar in einem Robinson’s-Kaufhaus erstanden
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