Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
über Mickey Magruder sprechen, den Mieter von 2-H.«
Sie musterte mich mit einem Paar wässrig blauer Augen. »Er wurde letzte Woche angeschossen.«
»Das ist mir bekannt. Ich habe ihn gerade im Krankenhaus besucht.«
»Sind Sie die Kriminalbeamtin?«
»Ich bin eine alte Freundin von ihm.«
Sie starrte mich an, und ihre blauen Augen wirkten durchdringend.
»Also, offen gestanden bin ich seine Exfrau«, fügte ich als Reaktion auf ihren Blick hinzu.
»Ich habe Sie in der Gasse parken sehen, als ich die Waschküche gefegt habe.«
Ich sagte: »Ah.«
»War alles in Ordnung?«
»Wo?«
»In 2-H. Mr. Magruders Wohnung. Sie waren eine ganze Weile da oben. Zweiunddreißig Minuten nach meiner Uhr.«
»Bestens. Kein Problem. Ich bin natürlich nicht hineingegangen.«
»Nicht?«
»Die Tür war mit Polizei-Absperrband versiegelt.«
»Sie haben auch ein Verbotsschild hingehängt. Große polizeiliche Warnung vor der Strafe, die einem droht.«
»Ich hab’s gesehen.«
Sie wartete. Ich hätte ja weitergeredet, aber mir fiel nichts mehr ein. Mein Denkprozess hatte sich kurzgeschlossen und mich mitten zwischen Wahrheit und Lüge im Stich gelassen. Ich fühlte mich wie eine Schauspielerin, die ihren Text vergessen hat. Mir wollte um keinen Preis einfallen, was ich als Nächstes sagen sollte.
»Wollen Sie sie mieten?«, fragte sie.
»Mieten?«
»Wohnung 2-H. Ich dachte, Sie seien deswegen hinaufgegangen.«
»Oh. Oh, sicher. Gute Idee. Die Gegend gefällt mir.«
»So, so. Tja, vielleicht können wir Ihnen Bescheid geben, wenn die Einheit frei wird. Möchten Sie hereinkommen und einen Antrag ausfüllen? Sie wirken etwas mitgenommen. Vielleicht ein Glas Wasser?«
»Das ist nett von Ihnen.«
Ich betrat die Wohnung und stand direkt in der Küche. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich in einer anderen Welt gelandet. Hinten auf dem Herd kochte ein Huhn. Eine zweite Frau, etwa im gleichen Alter, saß mit einem Kartenspiel an einem runden Eichentisch. Zu meiner Rechten befand sich ein förmliches Esszimmer: Mahagonitisch und Stühle, ein dazu passender Geschirrschrank voller Teller. Dieses Stockwerk war offenbar völlig anders aufgeteilt als das von Mickey. Die Temperatur der Klimaanlage musste auf siebenundzwanzig Grad eingestellt sein, und das Fernsehgerät auf der Arbeitsfläche plärrte mit brüllender Lautstärke Aktienkurse in den Raum. Weder Cordia noch ihre Schwester schienen den Fernseher zu beachten. »Ich hole Ihnen einen Antrag«, sagte sie. »Das ist meine Schwester Belmira.«
»Ich könnte den Antrag doch auch mit nach Hause nehmen, oder nicht? Dann fülle ich ihn aus und schicke ihn Ihnen. Das ist einfacher.«
»Wie Sie wünschen. Setzen Sie sich.«
Ich zog einen Stuhl heraus und setzte mich Belmira gegenüber. Sie mischte gerade Tarotkarten. Cordia trat an die Spüle und ließ das Wasser eine Weile laufen, bevor sie ein Glas füllte. Sie reichte mir das Wasser und ging dann an eine Küchenschublade, aus der sie einen Antrag zog. Sie kehrte an ihren Platz zurück, reichte mir das Blatt und nahm ein buntes Strickzeug zur Hand, das fünfzehn Zentimeter breit und mindestens vierzig Zentimeter lang war.
Ich ließ mir Zeit mit dem Wasser, studierte den Antrag und versuchte mich zu fassen. Was hatte ich nur? Meine Karriere als Lügnerin erlitt einen massiven Einbruch. Zumindest stellte keine der Schwestern meine weitere Anwesenheit in Frage.
Cordia sagte: »Belmira behauptet, sie sei eine Hexe, aber ich sehe keine Beweise dafür.« Sie spähte in Richtung Esszimmer. »Dorothy muss hier irgendwo sein. Wo ist sie denn hingegangen, Bel? Ich habe sie schon seit einer Stunde nicht mehr gesehen.«
»Sie ist im Bad«, antwortete Bel und wandte sich dann mir zu. »Ich habe leider Ihren Namen nicht verstanden.«
»Oh, Entschuldigung. Ich heiße Kinsey. Schön, Sie kennen zu lernen.«
»Ganz meinerseits.« Ihr Haar war schütter, fliegende weiße Strähnen, durch die man viel von ihrer rosafarbenen Kopfhaut sah. Unter ihrem dunkel bedruckten Hauskleid hatte sie schmale, knochige Schultern, und ihre Handgelenke waren so flach und dünn wie die Griffe von Schöpflöffeln. »Wie geht es Ihnen?«, sagte sie schüchtern, während sie die Tarotkarten zusammensammelte. Vier ihrer Zähne waren aus Gold.
»Prima. Und Ihnen?«
»Mir geht’s ausgezeichnet.« Sie zog eine Karte aus dem Stapel, hielt sie in die Höhe und zeigte mir die Vorderseite. »Der Schwertbube. Das sind Sie.«
Cordia sagte: »Bel.«
»Tja, es stimmt
Weitere Kostenlose Bücher