Kinsey Millhone 15 - Gefaehrliche Briefe O wie Opfer
worden, da ich noch einen Teil dieses Namens entziffern konnte. Ich zog die Kappe ab und nahm eine Nase voll. Es roch schwer nach Maiglöckchen, ein Duft, an den ich mich aus der ersten Zeit unserer Liebesgeschichte noch erinnerte. Mickeys Mutter musste ein ähnliches Parfüm getragen haben. Ich wusste noch, wie er die Lippen in die Kuhle an meinem Hals gelegt hatte, wenn ich selbst danach duftete. Ich stellte den Zerstäuber wieder hin. Außerdem lag in der Schublade ein in Papiertaschentücher gewickeltes Päckchen, etwa so groß wie ein Streifen Kaugummi. Ich faltete es auf und fand ein dünnes Goldkettchen, an dem ein kleines herzförmiges Goldmedaillon mit einer ganz winzigen emaillierten Rose in der Mitte hing. Ich möchte ja nicht zynisch klingen, aber Mickey hatte mir genau das gleiche geschenkt, als wir eine Woche zusammen waren. Manche Männer tun das, sie entdecken eine Masche, die einmal funktioniert — etwa eine einzelne rote Rose zu verschenken — , und wiederholen dieselbe Geste dann bei jeder Frau, die ihnen über den Weg läuft.
In einer Reinigungstüte hingen zwei dunkelblaue Uniformen mit Aufnähern an den Ärmeln. Ich schob eine Hand unter die Tüte und betastete einen der hellblauen Aufnäher. »Pacific Coast Security« war mit Goldfäden um den Rand gestickt. Außerdem hingen im Schrank mehrere Sportsakkos, sechs Oberhemden, vier Blue Jeans, zwei leichte Stoffhosen, eine dunkle Hose und eine schwarze Lederjacke, die ich sehr gut kannte. Es war die Jacke, die Mickey bei unserer ersten Verabredung getragen hatte; dieselbe Jacke, die er getragen hatte, als er mich zum ersten Mal küsste. Ich wohnte immer noch bei Tante Gin, daher stand von vornherein fest, dass wir nicht hineingehen und uns unanständig aufführen konnten. Mickey drückte mich gegen die Wohnwagentür, und das Leder seiner Jacke gab ein charakteristisches Knarren von sich. Der Kuss dauerte so lang, dass wir beide am Türrahmen nach unten sanken. Ich war Eva Marie Saint mit Marlon Brando in Die Faust im Nacken — immer noch einer der besten Leinwandküsse der Filmgeschichte. Nicht wie die Liebesszenen heutzutage, wo man sieht, wie der Typ dem Mädchen die Zunge bis in den Hals steckt und versucht, bei ihr einen Brechreiz auszulösen. Mickey und ich hätten uns womöglich sofort an Ort und Stelle geliebt, wenn wir nicht im Blickfeld sämtlicher Bewohner des Wohnwagenparks gestanden hätten, aber wir wussten ja, dass das schlechter Stil gewesen wäre und uns womöglich eine Festnahme eingebracht hätte.
Ich schüttelte den Kopf und machte die Schranktür zu, während mir ein Schauer der Erregung über den Körper lief. Ich probierte die Tür daneben, die auf den hinteren Außengang zu führen schien. Das Schloss hier war neu. Es steckte kein Schlüssel darin, aber vermutlich war er nicht weit entfernt. Mickey würde es niemandem leicht machen, in seine Wohnung einzubrechen, aber er würde den Schlüssel griffbereit haben wollen, falls es brannte oder ein Erdbeben kam. Ich wirbelte herum und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, während ich mir seine Tricks in Erinnerung rief. Ich kniete mich hin und tastete den Rand des Teppichbodens ab. An der Ecke angelangt, zog ich an einer losen Stelle. Ich hob das Teppichstück an und nahm den Schlüssel aus seinem Versteck. Ich schloss die Hintertür auf und ließ sie vorübergehend angelehnt. Dann kehrte ich zur Schlafzimmertür zurück und stellte mich dorthin, den Blick ins Wohnzimmer gerichtet. Die Polizei hatte sich hier garantiert schon einmal umgesehen und die Wohnung dann versiegelt, um später eine gründlichere Durchsuchung vorzunehmen. Ich versuchte, die Räume so zu sehen, wie sie sie gesehen hatte, und dann betrachtete ich sie wieder unter einem persönlichen Blickwinkel. Bei Mickey ging es weniger um das, was sichtbar war, als um das, was nicht sichtbar war. Er war ein Mann, der in permanenter Alarmbereitschaft lebte, und soweit ich das beurteilen konnte, hatten sich seine Ängste in den letzten Jahren noch verschärft. In Ermangelung globaler Konflikte rechnete er ständig mit einem Bürgerkrieg; mit entfesselten Horden, die das Gebäude stürmen, in jede Wohnung einbrechen und nach Essen, Wasser und anderen Wertsachen wie etwa Toilettenpapier verlangen würden. Wo waren also seine Waffen? Wie wollte er sich selbst verteidigen?
Ich versuchte es zuerst in der Küche, indem ich die Fußleiste nach hohlen Stellen abklopfte. Ich hatte ihn noch andere »Safes«
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