Kirchwies
Zier, doch weiter kommt man ohne ihr.« Zum Glück hatte das für Kirchwies nicht gegolten. Respekt voreinander und ein Lächeln auf den Lippen waren vor dem Mord an Thea selbstverständlich gewesen. »Ein ehrliches Lächeln steckt an«, hatte Pater Timo von der Kanzel gepredigt. »Warum starten wir nicht eine Epidemie?«
Doch das Trauma des Mordes an Thea Brommel hatte das Dorf in seinen Grundfesten erschüttert. Es blieb eine Wunde, die nicht heilen wollte, solange der Täter nicht gefasst war. Dass der Bürgermeister zusammen mit Fritzi Gernot die Ermittlung betrieb, wusste sehr schnell auch die letzte Katze im Dorf.
Die Beisetzungsfeier war eine Tortur. Jeder sah jeden von der Seite an. Jeder wurde verdächtigt – bis hin zu Pater Timo und Campari. Jede Form normaler Unterhaltung war unmöglich. Die Menschen standen unter Schock und scheuten instinktiv vor der Erwähnung des Namens der Ermordeten zurück, als würde ihre Beherrschung in sich zusammenfallen, wenn sie bloß darüber sprächen.
Ob Thea Brommel Angehörige hatte, die man wegen ihres Todes verständigen sollte, war bis zum Zeitpunkt ihrer Beisetzung nicht herauszufinden gewesen. Weder aus ihren Unterlagen im Haus war das ersichtlich, noch wusste sonst jemand etwas Näheres über ihr Privatleben. Lediglich der rätselhafte blonde Mann und der Junge mit den zerzausten Haaren am Meer standen auf der Fahndungsliste.
Sofort nachdem Thea unter der Erde war, legte sich tiefe Stille über das Dorf. Es machte sich besonders jetzt bezahlt, dass Kirchwies ein autofreies Dorf war. Früher, als die Umgehungsstraße noch nicht gebaut war, war der gesamte Durchgangsverkehr mitten durchs Dorf gerollt – ein endloser Strom von Fahrzeugen, die den hübschen Landhäusern und Bauernhöfen entlang der Dorfstraße und den kleinen Läden das Innerste herauszurütteln drohten. Kirchwies war ein Dorf gewesen, durch das man auf dem Weg zu einem anderen Ort einfach hindurchfuhr.
Seit der Bürgermeister – auf Initiative von Pater Timo – das Dorf nicht nur für den Durchgangsverkehr hatte sperren lassen, hatte sich das geändert. Seither konnten die Bewohner von Kirchwies die Straße überqueren und einkaufen gehen, ohne ihr Leben zu riskieren oder den Hund an der Leine führen zu müssen. Buben in kurzen Lederhosen und Mädchen in rotem oder grünem Dirndl marschierten neben den breiten, kopfsteingepflasterten Gehsteigen mitten auf der Straße zur Schule. Erste Gartenpartys waren gefeiert worden, und in dem Pavillon vorm Kirchwieser Löchl fand jeden Freitag ein Standkonzert der Blaskapelle statt, das von keinem Auto- oder Motorradkrach gestört wurde.
Kein aufragender Lkw oder Touristenbus behinderte fortan die Sicht. Man hatte einen ungestörten Blick auf die Vielfalt der Häuser und die Geschäfte mit den Auslagen und Schaukästen, die verlockende Aussicht auf Berge und Obstgärten und auf weidengesäumte Wiesen, die in der Ferne schimmerten. Hoch oben am Himmel, über den ein paar Kumuluswolken segelten, dröhnte ab und zu eine Passagiermaschine Richtung Münchener Flughafen. Sonst war es sehr still in Kirchwies, und oft schien kaum jemand unterwegs zu sein.
Für ein erlebnishungriges Kind wie Odilo war diese Lautlosigkeit allerdings ein Graus. Er hätte es am liebsten gehabt, wenn sich rings um das Haus der Camparis Gräben aufgetan hätten, aus denen kleine Drächlein quollen, die Feen verschlangen und gegen Ritter kämpften. Und wenn Hubschrauber übers Dach gedonnert wären, die Verbrecher jagten, und sich im Garten ganze Rudel von mümmelnden Hasen und Herden blökender Schafe herumgetrieben hätten, die von ihm gestreichelt hätten werden können. So aber hörte man den ganzen Tag nichts als das Gesumme einer Brummfliege am Fenster oder ab und zu leise Schritte, wenn draußen jemand vorbeiging.
»Odilo, was machen wir uns heute zu essen?«
»Ich hab gar überhaupt keinen Hunger.«
»Odilo, putz dir die Nase, du schniefst!«
»Nein, ich will keine Nase putzen.«
»Odilo, heute ist Freitag. Wennst mogst, gehen mir heut zum Standkonzert. Oder mogst lieber warten, bis der Onkel Campari kimmt?«
»Nein, ich will Sand spielen. Und den Campari, den kannst in der Pfeife rauchen. Ich will zu meiner Mama.«
»Ja, um Gotts willen, Odilo, wo hast du denn solche Ausdrück her?«
Dann seufzte Margot, dass ihr Busen wogte, und sprach: »Da Gott nicht alles allein machen wollte, schuf er die Mutter.«
zehn
Am Sonntag nach Theas Tod war die Kirche gerammelt voll.
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