Kirchwies
Sogar Campari sollte irgendwo im hinteren Fünftel in der Menge gesichtet worden sein, so hieß es. Er habe an einer warmen Leberkässemmel rumgekaut, munkelte man. In der Kirche! Doch das alles blieb ein Gerücht. Pater Timo hielt eine Predigt, die besänftigen sollte. Die Ruhe unters Volk bringen sollte.
Der Grünsteinsee, in dem sich blau der Himmel spiegelte, war mit kleinen weißen Schaumtupfen übersät. Die Berge rundum waren nicht mehr von geheimnisvollem Dunst verschleiert, sondern klar und glitzernd, mit großen Flächen dunkelgrüner Tannen und Latschen gefleckt. In der kristallklaren Morgensonne war jeder Felsen, jeder Spalt und jeder noch so unbedeutende Talkessel genau zu erkennen, bis hoch zu den diamanten glänzenden Gipfeln.
Es hätte alles gepasst, um die aufgeheizte Atmosphäre zu dämpfen und zu mildern. Doch der Tratsch auf dem Vorplatz nach dem Gottesdienst wischte all die guten Gedanken beiseite. Wäre man im Wilden Westen gewesen, wäre man geschlossen zur Wohnung von Mehmet Wandra marschiert und hätte ihn am nächsten Kastanienbaum aufgeknüpft.
Dabei war Wandra nicht verdächtiger als jeder andere auch, den Campari befragt hatte. Doch der Fremde war am ganzen Körper tätowiert und sah ungewöhnlich aus. Er passte nicht ins Dorf.
* * *
Fritzi Gernot fuhr mit dem Bus nach Wasserburg. Erstens war ihr Auto in der Werkstatt, zweitens fuhr sie wahnsinnig gern mit dem Bus. Es war einfach gemütlich. Man konnte die Landschaft stressfrei an sich vorüberziehen lassen, kam unter Menschen und war in der Lage, nachzudenken. Und das tat sie. Nachdenken.
Campari hatte sie gebeten, mit dem Vorsitzenden des TSV Wasserburg zu reden. Unverzüglich hatte sie mit Willy Brey einen Termin vereinbart.
»Sie war eine hervorragende Verteidigerin und mochte es, schnell zu spielen, was meiner Philosophie sehr entgegenkommt«, hatte der Coach die Stärken von Thea Brommel am Telefon beschrieben.
Das war nett. Aber sie wollte hauptsächlich wissen, ob Brey oder die anderen Spielerinnen etwas über das Privatleben Theas aussagen konnten. Hatten sie je ein Kind mit ihr gesehen oder von einem Kind gehört? War sie jemals in Begleitung erschienen?
Das Bild, das sie sich bisher von ihrer Freundin Thea Brommel gemacht hatte, begann zu verschwimmen. Sie hatte ja nichts gegen wechselnde Freundschaften oder gar gegen Sex. Aber wenn der Eindruck nicht täuschte, hatte Thea sich auf engstem Raum vergnügt. In einem Kuhdorf wie Kirchwies, dem Herzlichsten. Jedoch war noch nichts bewiesen, rein gar nichts.
Thea, die Rätselhafte. Thea, die Geheimnisvolle.
Gedanken, denen sie nachhing, als der Bus in strahlendem Sonnenschein über die B15 von Rosenheim Richtung Norden rollte. Sie konnte sich kaum an einen Tag erinnern, der so hell und voller Farbe gewesen wäre. In der Nacht hatte es ein wenig geregnet, sodass alles glänzte wie frisch gewaschen, und auf der feuchten Straße spiegelte sich das Blau des Himmels. Links und rechts huschten grüne Bäume und blühende Büsche vorbei. Hier ein zurückliegender Bauernhof mit weidendem Vieh drum herum, dort eine moderne Fabrik, die Spezialmaschinen für die Nahrungsmittelindustrie produzierte.
Der Bus bog um eine Kurve, hielt an. Ein Paar stieg aus, und eine Handvoll Bauern stieg ein. Sie fuhren nach Wasserburg, um ihre wöchentlichen Einkäufe zu erledigen. Eine dicke Frau zwängte sich wortlos an Fritzi vorbei und hockte sich auf den freien Fensterplatz. Fritzi musste sich zurücklehnen, damit nicht der fremde Hintern an ihrer Nase entlangschrammte. Die Frau ließ sich ächzend fallen und setzte einen Korb mit Eiern auf den Knien ab, in den ein lieblos in Zeitungspapier gewickeltes Büschel gelber und auberginefarbener Zinnien gezwängt war. Sie hatte eine grüne Schürze umgebunden und einen grünen Filzhut mit Feder auf dem Kopf und war so korpulent, dass Fritzi schließlich nur zur Hälfte auf ihrem Sitz Platz fand. Jedes Mal, wenn der Bus durch eine Kurve fuhr, lief sie Gefahr, ganz herunterzufallen.
In Sichtweite des grünen Inns durchfuhren sie eine Baustelle mit Erdbewegungsmaschinen wie prähistorische Ungeheuer, als ihr jemand auf die Schulter tippte.
»Grüß Gott«, hörte sie eine vertraute Stimme.
»Ich hab Sie schon in Rosenheim zusteigen sehen«, sagte Pater Timo. »Doch ich wollte Sie in Ihren Gedanken nicht stören. Sie waren so vertieft.«
»Das stimmt«, sagte Fanny, seine Haushälterin. Dass sie auch Pater Timos Schwester war, war nicht jedem
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