Kirchwies
bekannt. Man konnte ja nicht alles kundtun in der komplizierten Gesellschaft von Kirchwies.
Die Baustellenampel stand auf Rot. Der Bus wartete mit laufendem Motor, dann sprang die Ampel auf Grün, und der Bus juckelte zwischen Warnlampen weiter und erreichte den normalen Straßenverlauf.
»Fahren Sie zum Einkaufen?«, fragte Fritzi, nur um etwas zu sagen.
Unwillkürlich kamen ihr die Differenzen zwischen dem Pater und dem Bürgermeister in den Sinn. Sie erinnerte sich an den Erdrutsch und das Hochwasser im vergangenen Jahr, als der Kirchbach übergelaufen war und nicht nur am Sockel der Kirche nagte und den Friedhof unter Wasser setzte, sondern auch das Anwesen von Anton Scheiberl und einen Teil seines Privatflugplatzes überschwemmte. Hilfe tat not. Der Bürgermeister wollte Scheiberls Eigentum retten, Pater Timo aber seinen kirchlichen Besitz.
Der Pater hatte damals im Gottesdienst dem Bürgermeister und dessen Schäfchen die Leviten gelesen. Für die Reichen setzten sie sich ein. Für die Toten und den lieben Gott würden sie nichts tun. Je länger Fritzi über den Vorfall nachdachte, desto mehr Einzelheiten kamen ihr ins Gedächtnis.
Die Dorfgemeinschaft war damals in zwei Teile zerfallen. Die Schwarzen, die Campari unterstützten, und die Grünen, die zu ihrem Pater hielten. Die Schwarzen schienen übermächtig. Doch Pater Timo ging zu Anton Scheiberl und bat um Unterstützung. Irgendwie musste er den Industriellen, der riesige Spenden an den Ortsverband der Schwarzen überwies und auch sonst eiskalt war, mit seiner schelmisch-charmanten Art um den Finger gewickelt haben.
Am Nachmittag nach der Predigt in der Kirche jedenfalls war das Dorf vereint gewesen. Die gesamte Feuerwehr rückte an und das THW aus Rosenheim. Sie schleppten Sandsäcke, bauten Wälle, saugten Wasser ab. Sie begannen an der Kirche und am Friedhof und kümmerten sich erst in zweiter Linie um die Interessen des Bürgermeisters. Campari ließ sich den ganzen Tag nicht blicken. Trotzdem: So wie Fritzi es verstanden hatte, hatte das Dorf in der Not zusammengehalten.
»Wir fahren zu einem Treffen des Netzwerks katholischer Priester in Wasserburg«, erwiderte Pater Timo auf Fritzis Frage.
»Und ich darf zum ersten Mal dabei sein«, ergänzte seine Haushälterin. »Natürlich nicht, wenn die Hochwürden tagen. Eher nur in der Küche.«
Fritzi nickte abwesend. So ganz bei der Sache war sie nicht. Noch gingen ihr andere Gedanken durch den Kopf.
Zum Beispiel die Sache mit dem Empfang am Bahnsteig: Pater Timo war zu einem Kirchentreffen in München gewesen. Er war dort ausgezeichnet worden, so war es durchgesickert, und die Mitglieder seiner Gemeinde wollten ihn mit einem herzlichen Empfang überraschen. Doch zur gleichen Zeit war das gesamte Dorf zur Feier eines Jubiläums von Kirchwies vom Bürgermeister ins Rathaus eingeladen worden. Eine Feier mit Freibier, finanziert aus der Privatschatulle Anton Scheiberls.
Als Pater Timo einsam und verlassen vom Bahnhof durchs Dorf marschierte und am Rathaus ankam, brach lauter Jubel aus. Die Menschen ehrten ihren Pater in Gegenwart des Bürgermeisters. Das Banner mit Camparis Brustbild, das hoch über ihnen von der Wand gelacht hatte, war auf einmal verschwunden. Fritzi, die auch dabei gewesen war, konnte sich noch gut an Pater Timos Unschuldsmiene erinnern.
Bei dem Gedanken musste sie laut auflachen.
»Was ist?«
»Ach, ich musste grad an etwas sehr Lustiges denken«, sagte sie. Sie hatte Mühe, ernst zu bleiben.
»… Mehmet Wandra«, hörte sie. Der Pater hatte sie angesprochen. »Den Namen schon mal gehört?« Er sah sie prüfend an.
»Ja. Natürlich.« Sie schreckte auf. Was ist …?«
»Sie ermitteln doch mit dem Herrn Bürgermeister in der schrecklichen Mordsache.«
»Ja, sicher.« Immer, wenn sie darauf angesprochen wurde, machte sich ein gewisser Stolz breit.
»Dann wissen Sie bestimmt, dass unsere Bürger den armen Kerl am liebsten lynchen würden. Weil er tätowiert ist. Weil er nicht angepasst ist. Weil sie ihn aus diesem Grund für den Mörder halten.« Er beugte sich zu ihr herunter und sah sie an. »Was wissen Sie inzwischen über Mehmet Wandra?«
Fritzi nickte schwach. »Wenn er schuldig wäre, hätte Campari ihn längst verhaften lassen. Aber wir wissen natürlich einiges über ihn.«
»Eins fünfundneunzig groß, hundertzehn Kilo schwer, lange Haare, Vollbart.« Fanny hatte eine sympathische Art, sich auszudrücken. »Und tätowiert, vor allem. Und wie. Und wo überall.
Weitere Kostenlose Bücher