Klassenziel (German Edition)
jetzt heißen? Willst du mir dann am Freitagabend sagen, dass ich nicht hindarf oder was?»
«Das hängt ganz von deinem Verhalten ab!»
«Was, Scheiße, Mann! Dann kann ich ja auch direkt alles abblasen!» Wütend renne ich hoch in mein Zimmer und knalle die Tür hinter mir zu.
Zehn Minuten später ruft meine Mutter an. «Was ist denn bloß los mit dir, Jamie? Du bist ja heute schon wieder zu spät nach Hause gekommen.»
«Ach, hat Papa dich schon zugetextet? Na toll. Wenn er allein nicht mehr klarkommt, heult er sich bei dir aus, was?»
«Er macht sich Sorgen um dich! Und ich auch! Du hast dich in letzter Zeit wirklich total verändert!»
Ich bin wahnsinnig wütend, als ich später im Bett liege. So wütend, dass ich nicht einschlafen kann. Ja! Stimmt! Ich hab mich verändert! Na und? Soll ich vielleicht ewig der liebe kleine Jamie bleiben? Der alles richtig macht und nie widerspricht und immer freundlich lächelt? Scheiße! Ich hab alles verloren! Ich muss hier gerade komplett von vorne anfangen, und das ist nicht meine Schuld! Und wenn ich mir wieder was aufbauen will, wofür das Leben sich lohnt, dann muss ich einfach auch mal meine Freiheit kriegen und machen können, was ich für richtig halte!
I ch hörte, wie sich eine Tür öffnete, jemand flüsterte, und Schritte kamen näher. Meine Mutter erschien in meinem Blickfeld. Sie war überhaupt nicht gealtert. Sie sah aus wie immer. Nur dass sie Tränen in den Augen hatte. «Jamie!», flüsterte sie. «Bist du wach?» Was für eine blöde Frage, wollte ich sagen. Hat die schon mal irgendjemand mit Nein beantwortet? Aber ich kriegte keinen Ton raus.
Im Hintergrund des Bildausschnitts stand Uwe. «Ich ruf David an», sagte er und verschwand wieder, noch bevor ich ihm dankbar zublinzeln konnte. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass meine Hand auf der Bettdecke lag, bis meine Mutter danach griff. Ihre Finger waren kühl und drückten ein bisschen zu feste zu. «Gott sei Dank. Ich hab mir solche Sorgen gemacht. Geht’s dir gut? Kannst du mich sehen? Kannst du sprechen?» Mann, was für eine Fragenflut! Wo sollte ich bloß anfangen? Was hatte sie noch mal gesagt? Erschöpft schloss ich die Augen und schlief sofort wieder ein.
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W ir treffen uns am Sonntag um zehn im Probenraum und arbeiten ohne Pause konzentriert bis zwei Uhr nachmittags. Dann kommen Becky und Luna und bringen für alle Pizza und Getränke mit. Nach dieser Unterbrechung ist es schwierig, an die Instrumente zurückzukehren, aber so gegen vier haben wir wieder Fahrt aufgenommen, und jetzt wird deutlich, dass die Strapazen der letzten Woche nicht umsonst gewesen sind. Das Zusammenspiel klappt immer besser, meine Einsätze kenne ich mittlerweile im Schlaf, wir können sogar kleine Showeinlagen und Improvisationen einbauen, ohne die anderen aus dem Konzept zu bringen.
Es spornt mich total an, dass die Mädchen uns zuhören. Klar, das erinnert mich an damals – an Melody und Sophie. Und ich war ja immer schon der Meinung, dass Groupies die wichtigste Grundlage der Rockmusik sind. Ohne die wäre alles völlig sinnlos. Ich schließe die Augen und denke ganz fest an Melody, an jedes Wort, das ich mit ihr gesprochen habe, an jede Berührung und jeden Blick. Ich spiele nur für sie. Vielleicht kann sie mich hören, wo immer sie jetzt auch ist.
Am frühen Abend kommt Moritz’ Freundin und bringt zwei weitere Mädchen mit. Der Probenraum wird allmählich eng, und obwohl meine Handgelenke sich mittlerweile doppelt so dick anfühlen wie normal und meine Fingerkuppen wund gescheuert sind, macht das Spielen mir immer mehr Spaß. Bei bestimmten Passagen, an denen wir besonders lange rumgefrickelt haben, nehme ich Blickkontakt mit meinen Bandkollegen auf, und wir grinsen uns erlöst an, weil es jetzt endlich flutscht.
Seit ich meinen engsten Freunden von meiner Vergangenheit erzählt habe, sind die Dinge irgendwie verändert. Diese Panik, dass mir aus Versehen was rausrutscht, hat sich gelegt. Jetzt, wo das Zusammenspiel mit meiner neuen Band so glattläuft, denke ich zum ersten Mal darüber nach, auch andere einzuweihen. Ja, ich glaube, ich könnte es auch Moritz und Toshi sagen. Wenn ich mal ein bisschen zur Ruhe komme, werd ich darüber nachdenken.
D ie folgenden Tage gehören nicht gerade zu den Highlights meiner Biographie, allerdings wurde es allmählich immer besser. Ich konnte wieder reden, essen und aufstehen, die Kopfschmerzen ließen nach, das Schwindelgefühl auch.
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