Klassenziel (German Edition)
Trotzdem zogen sich die Stunden im Krankenhaus unendlich in die Länge. Lesen war mir zu anstrengend. Fernsehen auf die Dauer auch. Und ich durfte mich nicht allzu weit vom Zimmer entfernen, weil ich ständig mit medizinischen Maßnahmen traktiert wurde.
Das Schlimmste war die Röhre, in die ich reingeschoben wurde wie ein Brathähnchen. Sie war so eng, dass ich mit der Nasenspitze fast an die Decke stieß, und innen herrschte ein mörderischer Krach. Nach fünf Minuten kriegte ich Panik und drückte den Alarmknopf, und sie mussten mich rausholen und mir was zur Beruhigung geben, bevor sie mich gnadenlos zum zweiten Mal reinsteckten. Ich lenkte mich ab, indem ich alle Songtexte vor mich hinflüsterte, die ich jemals geschrieben hatte.
Am Ende blieb dieser Horror aber genauso ergebnislos wie alle anderen Untersuchungen. Mein Gehirn sah offenbar vorschriftsmäßig aus, meine Wirbelsäule war intakt, in meinen Ohren war alles an der richtigen Stelle, ich hatte keine Tumoren, keine Wassereinlagerungen und keine Verkalkung, ich konnte von hundert rückwärtszählen, mit geschlossenen Augen meine Nasenspitze berühren und, ohne zu schwanken, über eine Linie gehen. Ich war nicht krank. Nur dass ich eben ab und zu umfiel.
[zur Inhaltsübersicht]
127
I ch weiß, ich sollte die Schule ernst nehmen. Das sagt mein Vater mir ja oft genug, und meine Mutter auch, per Fernanweisung. «Die Schule ist das Wichtigste, und alles Übrige kommt erst lange danach.» Kann ja sein. Aber was soll ich denn machen, wenn ich dauernd andere Dinge im Kopf habe? Ich bin selbst ein bisschen erschrocken, wie schwer mir auf einmal selbst so banale Sachen wie Vokabellernen fallen. Normalerweise guck ich mir die Seite zehn Minuten an, und dann sitzt es. Jetzt glotze ich eine halbe Stunde auf dasselbe Wort und hab es schon wieder vergessen, bevor ich Luft holen kann.
Stattdessen fällt mir ein, wie wir einen fließenden Übergang zwischen zwei Songs hinkriegen könnten, und ich mache mir eine entsprechende Notiz. Dann gehe ich in die Küche und hole die Blätterteigscheiben aus dem Tiefkühlfach, aus denen ich was für unser gemeinsames Mittagessen morgen zaubern will. Moritz ruft an und fragt, ob ich eine halbe Stunde früher zur Probe kommen kann. Ich rufe Kenji an, um ihm den neuen Termin durchzugeben, und wir quatschen uns fest. Dabei kriege ich Hunger und mache mir, das Handy am Ohr, ein Schinkenbrötchen. Als ich wieder in mein Zimmer komme, liegt da immer noch mein aufgeschlagenes Französischbuch, und ich kann keine einzige Vokabel.
B eim Entlassungsgespräch war meine Mutter dabei. «Wir konnten keine organische Ursache für Jamies Schwindelanfälle finden», sagte die Ärztin. «Er ist kerngesund. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.»
«Ja – aber warum kippt er denn dann immer um?»
«Ich kipp nicht immer um», sagte ich. «Das ist bloß drei Mal passiert.»
«Bis jetzt!»
«Mit einiger Wahrscheinlichkeit hat es psychische Ursachen», schaltete sich die Ärztin ein. «Jamie hat sehr viel durchgemacht in den letzten Wochen. Er steht immer noch enorm unter Druck. Sie sollten versuchen, ihn zu entlasten. Er sollte auch vorläufig noch nicht wieder zur Schule gehen. Schonen Sie ihn, gönnen Sie ihm viel Ruhe.»
«Ich bin gaga», sagte ich, als ich neben meiner Mutter zum Parkplatz ging. Sie trug meine Tasche, und ich war wirklich noch ein bisschen wackelig auf den Beinen, aber das lag bestimmt daran, dass meine Muskeln in den letzten neun Tagen kaum beansprucht worden waren. «Hast du ja gehört. Bekloppt. Geisteskrank.»
«Blödsinn, das hat die gar nicht gesagt. Du sollst dich bloß schonen.»
«Das hat die auch nicht gesagt. Du sollst mich schonen.»
[zur Inhaltsübersicht]
128
O bwohl ich morgens gut gelaunt und zuversichtlich aus dem Haus gegangen bin, kriege ich an diesem Tag tierisch auf den Sack. Es fängt damit an, dass wir in Französisch einen unangekündigten Vokabeltest schreiben. Voller Entsetzen starre ich auf das Blatt Papier, das die Brüninghaus mir auf den Tisch gelegt hat. Vierzehn Vokabeln aus der neuen Lektion und drei Sätze, die wir ins Französische übersetzen sollen.
Beim Frühstück hatte ich noch mal kurz überlegt, ob ich meinen Vater bitten soll, mich abzuhören, aber mir war klar, dass ich sowieso kaum die Hälfte der Vokabeln gewusst hätte, und man soll ja schlafende Hunde nicht wecken. Wobei mein Vater schon lange kein schlafender Hund mehr ist, sondern eher ein übellauniger Pitbull,
Weitere Kostenlose Bücher