Kleine Abschiede
Sam
geistesabwesend.
»Ich habe unsere Zusage zurückgenommen.
Ich habe mich aus unserer Verabredung gemogelt. Ich habe wahrscheinlich auf
immer und ewig ihre Gefühle verletzt«, erklärte ihm Delia.
Doch Sam hörte nicht zu. Er
fixierte den Zeigefinger des Klempners, der hoch auf einen Riß im blätternden
Putz zeigte. Und Eliza tauchte den Meßlöffel in das Kaffeemehl; Carroll war der
einzige, der sie beachtete. Er gönnte ihr einen Blick äußerster Verachtung.
Ratlos nahm Delia sich wieder
die Einkaufstüten vor. Aus den Tiefen der einen zog sie den Stangensellerie,
blaßgrün und exakt gerippt. Sie betrachtete ihn lange und eindringlich. »Sie
sind ganz schön pfiffig!« hörte sie Adrian noch einmal sagen, und sie hielt
sich die Worte vor, nahm sie in den Arm, zog sie an ihre Brust, dann drehte sie
sich um und schenkte ihrem Sohn ein seliges Lächeln.
3 »Sie sind ganz schön pfiffig!«
hatte er gesagt, und »Sie sind doch so hübsch!«, und »Sie haben so ein kleines
Gesicht, wie eine Blume«. Meinte er damit, ihr Gesicht glich einer Blume, die
zufällig klein war? Oder wollte er nur sagen, was für ein kleines Gesicht sie
hatte? Sie bevorzugte die erste Interpretation, obwohl die zweite
wahrscheinlicher war.
Außerdem hatte er ihren
fabelhaften Flammeri gelobt. Natürlich war der Flammeri eigentlich aus der Luft
gegriffen, trotzdem, sie war doch stolz, als ihr einfiel, wie fabelhaft er ihn
gefunden hatte.
Sie betrachtete unbeobachtet
ihr Gesicht im Spiegel. Ja, vielleicht glich es wirklich einer Blume. Falls er
Blumen mit Sommersprossen meinte. Sie hätte immer gern dramatischer ausgesehen,
geheimnisvoller, viel erwachsener. Sie fand es ausgesprochen unfair, daß sie um
die Augen Falten bekam und immer noch ihr braves, so gar nicht raffiniertes,
spitzes Kindergesicht hatte. Aber das hatte Adrian offensichtlich attraktiv
gefunden.
Es sei denn, er hatte das nur
aus Nettigkeit gesagt.
Sie suchte seinen Namen im
Telefonbuch, aber seine Nummer war nicht zu finden. Sie hielt auf der Straße
und in den Läden in ihrer Gegend nach ihm Ausschau. Zweimal fuhr sie in den
nächsten drei Tagen wieder zum Supermarkt, trug jedesmal das Kleid mit der
angekrausten Passe, in dem sie nicht so flachbusig wirkte. Doch Adrian tauchte
nie auf.
Und wenn, was hätte sie
gemacht? Sie war ja eigentlich nicht in ihn verliebt. Schließlich wußte sie gar
nicht, was für ein Mensch er war! Und sie hatte ganz gewiß nicht vor (wie sie
es nannte), »mit jemandem etwas anzufangen«. Seit sie siebzehn war, hatte sich
ihr Leben um Sam Grinstead gedreht. Seit sie ihm begegnet war, hatte sie nicht
einmal einen Blick für andere Männer übrig gehabt. Selbst in ihren
Wunschträumen war sie kein Typ, der untreu war.
Immerhin, wenn sie sich
ausmalte, daß Adrian ihr über den Weg lief, spürte sie überdeutlich, wie leicht
und natürlich sie sich bewegte und wie ihr Kleid ihren Körper umspielte. Keine
Ahnung, wann zuletzt sie sich so ihrer selbst bewußt gewesen war, sich so von
außen, von ferne wahrgenommen hatte.
Zu Hause bauten vier Handwerker
eine Klimaanlage ein — eine von Sams plötzlichen Neuerungen. Sie schlitzten
Fußböden und Wände auf; sie dröhnten mit riesigen Maschinen; sie schleppten
Metallrohre und Ballen von Isoliermaterial, das wie graue Zuckerwatte aussah.
Delia konnte, wenn sie abends im Bett lag, direkt über sich durch ein
rechteckiges Loch in der Decke die Dachbalken sehen. Sie malte sich Fledermäuse
und Schwalben aus, die sie im Schlaf umsegelten. Sie bildete sich ein, sie
hörte das Haus vor Kummer stöhnen — so ein bescheidenes, freundliches Haus, gar
nicht gefaßt auf Veränderungen.
Doch Sam war hingerissen. Oh,
er brachte zwischen den Handwerkerterminen kaum seine Patienten unter.
Elektriker, Maurer und Anstreicher überfielen sein Sprechzimmer mit
Kostenvoranschlägen für die vielen geplanten Neuerungen. Ein Schreiner kam
wegen der Fensterläden und ein Mann, der den Mehltau auf den Holzschindeln
besprühte. Zweiundzwanzig Jahre hatte Sam hier gewohnt; hatte er dies alles die
ganze Zeit schon so kritisch gesehen?
An einem Montagmorgen im Juli
war er zum erstenmal ins Wartezimmer ihres Vaters gekommen, kaum drei Wochen nach
ihrem High-School-Abschluß. Dermaßen gespannt, ihn kennenzulernen, hatte Delia
auf ihrem gewohnten Platz am Schreibtisch gesessen; auch wenn es nicht ihre
gewohnte Zeit war (meist arbeitete sie nachmittags). Sie und ihre Schwestern
hatten kein anderes Thema mehr
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