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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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das wachsame, undurchdringliche Gesicht, das Kinder häufig machen, wenn
sie jemand Neuen kennenlernen. »Also der Topf ist voll mit heißem Öl, glaub’
ich, und jeder von uns kriegt —«
    »Fondue«, unterbrach sein
Vater. »Du meinst Fondue.«
    »Genau, und jeder von uns
kriegt eine Gabel, auf die wir unser Fleisch aufspießen und selbst braten
können, alle mit anderen Tieren am Griff, damit wir auseinanderhalten können, wem
seine gehört. Meine war so ‘ne Giraffe, und rate, was auf der von Jacks kleiner
Schwester drauf war?«
    »Keine Ahnung«, sagte sein
Vater. »Mein Sohn, Delia ist hier — «
    »Ein Schwein!« quietschte Noah.
»Seine kleine Schwester hat das Schwein gekriegt!«
    »Tatsächlich!«
    »Und deshalb hat sie auch
geheult, aber Carrie heult ja andauernd. Dann hat es zum Nachtisch noch eine
Tüte Schokomurmeln gegeben, aber meine habe ich nicht genommen. Ich war aber
sehr höflich. Ich meinte zu seiner Mutter, ich meinte — «
    »Sagte.«
    »Hö?«
    »Du sagtest zu seiner
Mutter.«
    »Genau, ich also: Vielen Dank,
Mrs. Newell, aber ich bin so voll, ich glaube, ich lasse das besser.«
    »Ich dachte, du magst
Schokomurmeln«, sagte sein Vater.
    »Mach keine Witze! Nicht seit ich
Bescheid weiß.« Noah wendete sich zu Delia. »Schokomurmeln haben eine Hülle aus
gemahlenen Käferpanzern.«
    »Nein!« sagte sie.
    »Nein«, sagte auch Mr. Miller.
»Wo hast du denn das her?« fragte er seinen Sohn.
    »Kenny Moss hat’s mir
verraten.«
    »Na, dann! Wenn Kenny Moss das
sagt, wie können wir dann daran zweifeln?«
    »Im Ernst! Er hat es von seinem
Onkel gehört, der in der Branche ist.«
    »Welcher Branche,
Revolverblätter?«
    »Hö?«
    »In Schokomurmeln sind keine
Käferpanzer. Ich schwör’s dir. Die Lebensmittelkontrolle würde das nie
erlauben.«
    »Und rate, was in Maischips
drin ist«, erzählte Noah Delia. »Den gelben Maischips?«
    »Möwenkacke.«
    »Das hab’ ich ja gar nicht
gewußt!«
    »Deshalb sind sie so knackig.«
    »Noah — « sagte sein Vater.
    »Ehrlich, Papa! Kenny Moss hat
es geschworen!«
    »Noah, Delia ist hier, weil wir
uns darüber unterhalten haben, ob sie unsere Haushälterin werden will.«
    Delia warf Mr. Miller einen
Blick zu und krauste die Stirn. Er zog ein ahnungsloses, nichtssagendes
Gesicht, als verstände er sie nicht. »Eigentlich«, sagte sie zu Noah gewandt,
»habe ich nur mal... nachgefragt.«
    »Sie überlegt es sich«, lenkte
Mr. Miller ein.
    Noah sagte: »Das wäre prima!
Ich muß mir immer selbst mein Schulbrot machen.«
    »Entsetzlich«, sagte sein
Vater. »Grenzt an Kinderarbeit.«
    »Na, wie fändest du das?
Du machst deine Butterbrotdose auf: ›Mensch, so ‘ne Überraschung, was habe ich
mir denn da Schönes gemacht?‹«
    Delia lachte. Sie sagte: »Ich
muß gehen. Es war schön, dich kennenzulernen, Noah.«
    »Auf Wiedersehen«, sagte Noah
und streckte unvorhergesehen seine Hand aus. »Ich hoffe, du kommst.«
    Seine Hand war klein, aber
schwielig. Als er zu ihr hochschaute, lag ein Hauch Gold in seinen Augen, wie
Sonnenschein auf braunem Wasser.
    Draußen vor der Haustür sagte
Delia zu Noahs Vater: »Ich dachte, er sollte nicht den Eindruck bekommen, er
wird unter die Lupe genommen?«
    »Ach«, sagte Mr. Miller. »Ja.
Also.«
    »Ich dachte, Sie wollten ihn
davor verschonen! Dann erzählen Sie einfach, aus welchem Grund ich gekommen
bin.«
    »Ich weiß, das hätte ich nicht
tun sollen«, sagte Mr. Miller. Er legte abwesend die gespreizte Hand auf seinen
Kopf, wie eine Kappe. »Ich wollte nur so dringend, daß Sie zusagen.«
    »Und Sie haben nicht mal irgendein
Empfehlungsschreiben gesehen! Sie wissen überhaupt nichts von mir!«
    »Nein, aber Ihr Englisch
gefällt mir.«
    »Englisch?«
    »Ich werde wahnsinnig, wenn
jemand schlampig spricht. »›So‹ hier und ›so‹ da und ›ich meinte‹ statt ›ich
sagte‹. Das macht mich fix und fertig.«
    »Na, so was«, sagte Delia. Sie
wollte gehen.
    »Miss Grinstead? Delia?«
    »Ja?«
    »Werden Sie es sich wenigstens
überlegen?«
    »Natürlich«, sagte sie.
    Doch sie wußte, daß sie das
nicht tun würde.
     
    * * *
     
    Vanessa sagte, Joel Miller sei
der bedauernswerteste Mann, den sie kenne. »Seit seine Frau weggegangen ist,
kommt der arme Kerl kaum über die Runden«, erzählte sie Delia.
    »Gibt’s in Bay Borough
eigentlich keine einzige glückliche Ehe?« wunderte sich Delia.
    »Doch, ‘ne Masse«, sagte
Vanessa. »Du hast nur noch keine kennengelernt.«
    Sie saßen am folgenden

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