Kleine Abschiede
Morgen,
einem kalten sonnigen Samstag, in Vanessas Küche. Eigentlich war es die Küche
ihrer Großmutter; Vanessa und ihre sämtlichen drei Brüder wohnten bei ihrer
Großmutter väterlicherseits. Vanessa beschriftete mit einem alten
Stahlfederhalter Etiketten. Höchst wirksames Insektenvertreibungsmittel, schrieb sie in haarfeiner Schrift auf elfenbeinfarbene ovale Schildchen. Das
wirksame Mittel war ein altes Familienrezept. Wenn Vanessa ihre tägliche Menge
Etiketten fertig hatte, klebte ihr jüngster Bruder sie auf schlanke
Glasröhrchen, in denen verschiedene eingelegte Kräuter und Beeren geheimnisvoll
hin und her gluckerten. Delia konnte sich schwerlich vorstellen, wie man davon
leben konnte, aber offensichtlich konnten das die Linleys. Ihr Haus war groß
und gemütlich, und die Großmutter leistete sich einmal im Jahr eine Reise nach
Disneyland. Vanessa erklärte, das Geheimnis sei Flohkraut. »Sag es nicht
weiter«, verriet sie Delia, »aber Insekten hassen Flohkraut. Die anderen
Kräuter sind hauptsächlich Dekoration.«
Auf dem Fußboden baute Greggie
einen Turm aus Flaschenkorken. Wenn Vanessa mit ihren Etiketten fertig war,
wollten sie und Delia mit ihm zum Weihnachtsmann gehen. Danach wollte Delia
einige Weihnachtseinkäufe machen. Oder vielleicht auch nicht; sie wußte es noch
nicht. Eigentlich hatte sie Weihnachten nie gemocht; zu sehr drohte die Gefahr,
den geheimen Wünschen ihrer Familie nicht gerecht zu werden, und dieses Jahr
würde schlimmer denn je. Vielleicht sollte sie die ganze Geschichte einfach
übergehen? Oh, warum gab es keine festen Verhaltensregeln für weggelaufene
Ehefrauen?
Womit sie wieder bei Mr. Miller
war. »Wieso hat seine Frau ihn verlassen, weiß man das?« fragte sie Vanessa.
»Oh, klar, alle wissen das.
Eigentlich lebten sie seit Jahren nicht schlecht zusammen, süßer kleiner Junge,
nettes Haus, und eines Tages, vergangenen Frühling, stellte Ellie einen Knoten
in der Brust fest. Ging zum Doktor, und der meinte, ja, sieht nach Krebs aus.
Also geht sie nach Hause und erklärt ihrem Mann: ›In der Zeit, die ich noch
habe, möchte ich aus meinem Leben das Beste machen. Ich möchte genau das tun,
wovon ich schon immer geträumt habe.‹ Und bis zum Abend hatte sie ihre Sachen
gepackt und war weg. Das war ihr größter, innigster Wunsch, hast du so was
schon mal gehört?«
»Wo steckt sie jetzt?«
»Oh, sie ist die
Fernsehwetterfrau drüben in Kellerton«, sagte Vanessa. »Der Knoten war gar
nichts; sie haben ihn mit örtlicher Betäubung rausoperiert. Jetzt können Mr. Miller
und Noah sie jeden Abend im Fernsehen bewundern. Vielleicht hast du sie auch in Neues aus der Nachbarschaft gesehen. Vergangenen August haben sie ein
Porträt von ihr gebracht. Hübsche Blondine. Haar wie das Strohzeug, mit dem wir
unsere Flaschen verpacken. Hier hat das keinen vom Hocker gerissen — Frau, die
ihr eigenes Kind verläßt.«
Delia sah in ihren Schoß.
»Alle Frauen in der Stadt haben
versucht, Mr. Miller zu helfen«, sagte Vanessa. »Haben Lasagne herübergebracht,
sein Kind nachmittags genommen. Aber ich glaube, spätestens im Sommer hat er
gemerkt, daß es nicht reicht, da hat er nämlich die Anzeige ins Stadtblatt
gesetzt.«
»Die Anzeige steht seit dem
Sommer drin?«
»Genau, aber seine Nachbarin
hat mir erzählt, daß die einzigsten Antworten nur von Teenagern aus der
High-School kommen. Jedes einzelne Mädchen der Dorothy-Underwood-High-School
ist verknallt in Mr. Miller. Ich auch; es gehört einfach dazu, wenn du da
Schülerin bist. Ich war in der letzten Klasse, als er neu war, und ich fand,
ich hatte noch nie ‘nen Mann zu Gesicht bekommen, der so sexy war. Aber
natürlich kann er kein x-beliebiges Mädchen anstellen, also annonciert er
immerzu. Auf die Idee, daß du den Job haben möchtest, bin ich nicht gekommen.«
»Will ich auch eigentlich gar
nicht«, sagte Delia. Sie beobachtete Greggie, wie er mit den Korken auf dem
Linoleum Eisenbahn spielte. Seine kleinen Hände erinnerten sie an Kekse, solche
mit eingestochenen Mustern obendrauf. Sie hatte vergessen, was für ein Vergnügen
es war, kleinen Kindern zuzuschauen. »Ich habe nur Mr. Pomfret dermaßen satt«,
sagte sie. »Meinst du, in der Möbelfabrik gibt es freie Stellen?«
»Oh, die Möbelfabrik«, sagte
Vanessa und tauchte den Federhalter ein. »Die brauchen immer nur Öler. Stehen
den ganzen Tag da, mit großen Handschuhen, und reiben Stuhlbeine mit Öl ein.«
»Aber sie müssen doch Stellen
im Büro
Weitere Kostenlose Bücher