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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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dem
niedrigen Tisch. Doch Mr. Miller, der ihrem Blick folgte, sagte: »Oh, die
Oberfläche bewältige ich schon. In der Küche hängt ein Plan. Jeden Tag kommt
etwas anderes an die Reihe. Heute nachmittag haben wir Staub gesaugt, gestern
abgestaubt. Aber die Probleme liegen woanders. Letztes Wochenende, zum
Beispiel, wollte er Pfennigsuppe haben. ›Pfennigsuppe?‹ frage ich. Konnte mir
nichts drunter vorstellen. Er behauptete, die hätte seine Mutter ihm gekocht,
als er noch klein war. Ich ließ mir erklären, woraus sie bestand, und es
stellte sich heraus, daß er schlicht und einfach Gemüsesuppe meinte. Ich
glaube, sie haben sie Pfennigsuppe getauft, weil es ein billiges Essen ist.
Also sage ich: ›Die kann ich auch.‹ Ich wärme den Inhalt einer Dose auf, er
wirft einen einzigen Blick in den Topf, und was macht er? Fängt an zu weinen.
Zwölf Jahre alt und gerät völlig außer Fassung, ein Junge, der, als er sich den
Arm brach, keinen Mucks von sich gab. Ich sage: ›Was ist denn los? Was stimmt
denn nicht?‹ Er sagt: ›Sie darf nicht aus der Dose sein.‹ Ich sage: ›Gütiger
Gott, Noah.‹ Aber ich bin ja nicht dumm. Ich wußte, irgendwas bedeutete die
Suppe ihm. Also nehme ich mir das Kochbuch vor und lege los. Aber als er mich
herumhantieren sah, meinte er, ich solle mir die Mühe sparen. ›Spar dir die
Mühe‹, sagte er. ›Ich habe sowieso keinen Hunger.‹ Und ging ab in sein Zimmer,
und ich saß da mit meinen Möhrenwürfeln.«
    »Möhrenscheibchen«, sagte Delia.
    Er runzelte seine schwarzen
Augenbrauen.
    »Die Möhren müssen in Scheiben geschnitten sein«, erklärte sie ihm, »und auch die Zucchini, die Süßkartoffeln,
neue Kartoffeln. Deshalb heißt sie Pfennigsuppe. Das hat mit dem Preis nichts
zu tun. Unwahrscheinlich, daß Sie die im Kochbuch finden, das Rezept ist,
glaub’ ich,... ein typisches Mutterrezept, wissen Sie.«
    »Miss Grinstead«, sagte Mr.
Miller, »darf ich Ihnen wenigstens zeigen, wo Sie wohnen, wenn Sie die Stelle
annehmen?«
    »Nein, wirklich, ich...«
    »Sehen Sie es sich doch
wenigstens an! Das Gastzimmer. Mit eigenem Bad.«
    Sie erhob sich mit ihm, doch
nur weil sie die Flucht ergreifen wollte. Was hatte sie sich eigentlich dabei
gedacht, hierherzukommen? Sie fühlte, wie ihr die Finger juckten, das Gemüse, wie
es sein sollte, in Scheiben zu schneiden, dem Jungen die Suppe vorzusetzen und
zu tun (zwölf war zu alt, zu alt, um ihn noch in den Arm zu nehmen), als hätte
sie seine Tränen nicht gesehen. »Das Zimmer ist sicher wunderschön«, sagte sie.
»Bestimmt wird jemand es mögen! Jemand Junges vielleicht, der noch genug...«
    Sie folgte Mr. Miller über
einen kurzen, mit Teppichboden ausgelegten Flur, an dem die Türen offenstanden.
An der letzten Tür trat Mr. Miller einen Schritt zurück, damit sie ins Zimmer
schauen konnte. Es war die Art Zimmer, in dem selten jemand länger als ein oder
zwei Nächte bleibt. Neben dem hohen Doppelbett war an beiden Seiten kaum ein
Meter Platz. Auf dem Nachttisch lag ein gut ausgewählter Lektürevorrat
(zusätzliche Zeitschriften, zwei Bücher, Sammelbände vielleicht). Auf dem
gerahmten Sticktuch an der Wand stand in sechs Sprachen willkommen.
    »Großer begehbarer
Wandschrank«, sagte Mr. Miller. »Eigenes Badezimmer, wie ich, glaube ich, schon
gesagt habe.«
    Woanders im Haus schlug eine
Tür, und ein Kind rief: »Papa?«
    »Aha«, sagte Mr. Miller. »Ich
komme!« rief er. »Jetzt lernen Sie Noah kennen«, sagte er zu Delia gewandt.
    Sie machte einen Schritt
zurück.
    »Nur, um Hallo zu sagen«,
versicherte er ihr. »Was kann das schon schaden?«
    Sie hatte keine Wahl und folgte
ihm wieder durch den Flur.
    In der Küche (die Schränke
waren karamelbraun, die Tapete mit Butterfässern bedruckt) stand ein stämmiger
kleiner Junge und zerrte an seiner roten Jacke. Er hatte einen wirren braunen
Haarschopf, ein schmales, sommersprossiges Gesicht und die schmalen, dunklen
Augen seines Vaters. Sie waren noch nicht eingetreten, als er schon anfing zu
reden. »He, Papa, rate, was Jacks Mutter zum Abendessen gemacht hat! Also,
solche Fleischbrocken, und die taucht man in...« Dann bemerkte er Delia, warf
ihr einen Blick zu und redete weiter, »... in so einen Topf und dann —«
    »Noah, ich möchte dir Miss
Grinstead vorstellen«, sagte sein Vater. »Sollen wir Sie Delia nennen?« fragte
er sie. Sie nickte; das war jetzt auch egal. »Ich bin Joel«, sagte er, »und
dies ist Noah. Mein Sohn.«
    Noah sagte: »Oh, hallo.« Er
hatte

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