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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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betrat die ›Gute Sicht‹ und
nahm sich noch einmal ein Stadtblatt vom Stapel gleich hinter der Tür.
     
    * * *
     
    »Ich möchte nicht, daß mein
Sohn denkt, er wird unter die Lupe genommen«, sagte Mr. Miller, »überprüft, ob er
dem Standard entspricht. Deshalb habe ich Sie gebeten, in seiner Abwesenheit zu
kommen. Wenn Sie wirklich interessiert sind, können Sie bleiben und ihn
kennenlernen. Er ißt bei einem Freund zu Abend, aber in einer guten halben
Stunde kommt er nach Hause.«
    Er saß ihr gegenüber in einem
chintzbezogenen Sessel, der durch seine Person kleiner erschien, wie auch das
ganze vollgestopfte, überladene Wohnzimmer seines kleinen, im Ranch-Stil
gebauten Hauses am Stadtrand kleiner erschien durch seine Gegenwart. Überraschenderweise
kannte sie ihn. Joel Miller: er hatte vor einigen Monaten wegen einer
Besuchsregelung Mr. Pomfrets Dienste in Anspruch genommen. Sie erinnerte sich,
daß ihr seine Glatze gefallen hatte. Männer, die ihre Kahlheit nicht durch
kunstvoll drapierte Haarsträhnen zu vertuschen suchten, strahlten, fand sie,
eine anziehende maskuline Selbstsicherheit aus; und Mr. Miller mit dem großen,
ebenmäßigen Gesicht und seiner olivbraunen Haut, dem lockeren grauen Anzug
schien heiter und gelassen. Darunter aber entdeckte sie die Anspannung. Er
hatte ihr dreimal versichert — im Widerspruch zum Tenor der Anzeige — , daß
sein Sohn die allermeiste Zeit des Tages, eigentlich den gesamten Tag, in der
Schule verbringe und daß er zu Hause eigentlich eher die bloße Anwesenheit als
die tatkräftige Unterstützung einer Erwachsenen brauchte. Delia hatte den
Eindruck, bisher hatte sich niemand um die Stellung beworben.
    »Er ißt tatsächlich oft bei
Freunden«, sagte Mr. Miller. »Und im Sommer, das habe ich wohl noch nicht
erwähnt, ist er zwei Wochen im Zeltlager. Wo außerdem eine Computergruppe, ein
Fußballtraining — «
    »Sommer!« sagte Delia. Sie
lehnte sich in ihrem chintzgepolsterten Schaukelstuhl zurück. Sommer mit seinen
milden, trägen Nachmittagen, Eiswürfel-klimpernden Limonadengläsern,
braungebrannten Kinderkörpern in Badeanzügen! »Oh, Mr. Miller«, sagte sie, »in
Wahrheit befindet sich mein Leben gerade im Umbruch. Ich weiß nicht, ob ich
mich dermaßen... engagieren möchte.«
    »Und im Sommer bin ich selbst
auch mehr da«, fuhr Mr. Miller fort, als hätte er ihren Einwand überhört.
»Nicht den ganzen Tag — ein Schulleiter hat nicht die gleichen Freiheiten wie
seine Lehrer aber doch ziemlich viele.«
    »Ich hätte besser nicht kommen
sollen«, sagte Delia. »Ein Kind im Alter ihres Sohns braucht eine dauerhafte
Beziehung.«
    Warum sind Sie dann gekommen? hätte er mit gutem Grund
fragen können, der arme Mann, statt dessen klammerte er sich an ihren letzten
Satz. »Sie haben anscheinend Erfahrung«, sagte er. »Haben Sie Kinder, Miss
Grinstead? Oh!« Seine Mundwinkel gingen kurz nach unten. »Entschuldigung,
natürlich nicht.«
    »Doch«, antwortete sie.
    »Also, Mrs. Grinstead.«
    »Miss ist mir lieber.«
    »Ich verstehe.«
    Er überlegte.
    »Aber dann haben Sie
Erfahrung«, sagte er schließlich. »Ausgezeichnet! Und kommen Sie hier aus der
Gegend?«
    Offensichtlich kannte er den
Klatsch von Bay Borough nicht. »Nein«, sagte sie.
    Sie sah, was ihm durch den Kopf
ging. Er war vielleicht verzweifelt, aber leichtsinnig war er nicht. Eine
zwielichtige Gestalt wollte er nicht anstellen.
    »Ich komme aus Baltimore«,
erklärte sie schließlich. »Ich bin absolut vertrauenswürdig, das garantiere
ich, aber diesen Abschnitt meines Lebens habe ich hinter mir gelassen.«
    »Aha.«
    Oh, Gott, jetzt malte er sich
irgendein Drama aus. Er hielt den Kopf schräg und betrachtete sie interessiert
von oben bis unten.
    »Aber«, beharrte sie. »Was die
Stelle angeht — «
    »Ich weiß, Sie wollen sie
nicht«, sagte er betrübt.
    »Es hat nichts mit der Stelle
zu tun. Ihr Sohn ist sicher sehr nett.«
    »Oh, mehr als nett«, sagte Mr.
Miller. »Wirklich, er ist so ein guter Kerl, Miss Grinstead. Er ist wunderbar!
Aber ich habe überschätzt, wie gut wir allein fertig werden. Ich dachte,
solange ich weiß, wie die Waschmaschine funktioniert... Aber die Dinge sind mir
über den Kopf gewachsen.«
    Er holte aus und wies in die
Runde, was Delia verwirrte, weil im Zimmer eine penible Ordnung zu herrschen
schien. Pralle kleine Kissen mit Knöpfen in der Mitte drängten sich auf dem stoffbezogenen
Sofa, jedes exakt plaziert. Glänzende Modehefte lagen wie abgemessen auf

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