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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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hast, was sie nicht
verstand, bis sie das Silberpapier aufriß und eine Zimmermannsschürze aus
Segeltuch in Händen hielt — mit Taschen auf dem Latz. Sie lächelte und streifte
sich den Halsträger über den Kopf. Bisher hatte sie eine Cocktailschürze
getragen, die sie zwischen den Geschirrtüchern gefunden hatte und die ihre
Kleider nur unten schützte.
    Sie hatte Noah einen
›Lebensretter‹ aus Kemps Campingladen geschenkt. Das begeisterte die meisten
Jungen. Eine echte Erfindung, dieses Utensil — kaum größer als eine
Kreditkarte, mit stromlinienförmigem, ausklappbarem Schnickschnack, inklusive
Lupe, mit der man auch Feuer machen konnte.
    Sie fütterte George, dann zog
sie sich an und machte es sich wieder mit Dr. Schiwago auf dem Sofa
bequem. In regelmäßigen Abständen sah sie von ihrer Lektüre hoch und ließ den
Blick durch den Raum wandern. Wintersonnenschein, gleißend, fast weiß, fiel auf
den Teppich. Die Katze gönnte sich im blauen Sessel ein Sonnenbad. Alles wirkte
angenehm eindimensional, wie ein Bild.
    Zu Hause packten sie jetzt die
Geschenke aus. Kein Vergleich zu ganz früher; damals waren sie schon
aufgestanden, bevor es hell war. Jetzt kamen sie am späten Vormittag gemächlich
nach unten und verteilten wohlerzogen die Geschenke, immer der Reihe nach. Zum
Mittagessen gab es immer Gans, ein alljährliches Patientengeschenk. Zum
Nachtisch Plumpudding mit fester Sauce, und immer hieß es, der Pudding sei zu
mächtig, dennoch aßen sie ihn auf, und den restlichen Nachmittag stöhnten sie
über ihr Völlegefühl und hielten sich die Bäuche.
    Ab und zu nahm ihr die
Tatsache, wie leicht ihre Familie sich mit ihrem Fortgehen abgefunden hatte,
immer noch die Luft weg.
    Wobei es, genauer betrachtet,
eigentlich logisch war. Beinah unvermeidlich. Beinah... schicksalhaft.
Rückblickend erschien ihr jedes Ereignis des vergangenen Jahres — der Tod ihres
Vaters, Sams Krankheit, die Begegnung mit Adrian — wie Wellen, die
nacheinander, in immer dichterer Abfolge, sie, Delia, ins Rollen brachten.
Nicht auf Abwege, sondern vorwärts, denn mittlerweile empfand sie ihren Umzug
zu den Millers durchaus als Fortschritt.
    Eigentlich hatte sie
befürchtet, ihr freier Tag würde ihr womöglich kaum reichen, doch als Joel und
Noah in der Dämmerung in die Einfahrt bogen, stand sie schon am Fenster und
hielt nach ihnen Ausschau. Als sie die Scheinwerfer sah, ließ sie die Gardine
fallen und lief eilig zur Tür.
     
     
     
    13 Einmal in der Woche, meist
Mittwoch nachmittags, fuhr Delia Noah wenige Kilometer über den Highway 50
westwärts seinen Großvater besuchen. Der alte Herr wohnte an einem Ort namens
Senior City — einem vier Stockwerke hohen, funkelnagelneuen roten Backsteinkomplex
am Rande eines Golfplatzes im Marschland. Delia bog in das U der Auffahrt ein,
ließ Noah aussteigen und fuhr dann weiter, umkreuzte einen Fuhrpark
gigantischer Buicks und Cadillacs. Eine Stunde später kam sie wieder, dann
wartete er am Haupteingang. Die Zeit war unpraktisch gewählt, eine Spur zu
kurz, um inzwischen irgend etwas Sinnvolles zu erledigen, also fuhr sie
gewöhnlich in ein nahegelegenes Shoppingcenter. Dort stöberte sie in einer
Buchhandlung, oder sie kaufte im Feinkostladen etwas Besonderes zum Abendessen.
    An einem Mittwoch Mitte Januar
verkündete Noah beim Aussteigen, sie solle mitkommen. »Ich? Wozu?« fragte sie.
    »Großvater möchte dich
kennenlernen.«
    »Aber...«
    Sie sah an sich herunter. Unter
ihrem Mantel trug sie ein Hauskleid, ein dunkles Kleid aus bedruckter
Baumwolle, das sie im Nach-Weihnachts-Schlußverkauf erstanden hatte. »Wie wär’s
mit nächster Woche?« schlug sie vor.
    »Ich soll dich heute
mitbringen. Ich hab’s fast vergessen.«
    Sie fuhr den Wagen auf den
Besucherparkplatz. »Hättest du das früher gesagt, hätte ich was Schönes
angezogen«, sagte sie.
    »Ist doch nur Großvater.«
    »Ich sehe verheerend aus! Wie
heißt er?«
    »Nat.«
    »Ich meine mit Nachnamen«,
sagte sie und stieg aus. Aus jahrelanger Erfahrung wußte sie, was Förmlichkeiten
anging, war auf Kinder kein Verlaß. »Ich muß ihn doch Herrn Sowieso nennen.«
    »Alle sagen einfach Nat.«
    Sie gab auf und folgte Noah
vorbei an einer Reihe Behindertenparkplätze. »Gibt es einen Grund, warum er
mich sehen will?« fragte sie.
    »Er sagt, er kann sich kein
Bild machen, wenn ich von dir erzähle.«
    Sie näherten sich der
automatischen Doppeltür, die aufglitt und sie einließ. Die Halle hatte einen
hartgenoppten

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