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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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frohe
Weihnachten, sagte, er sei mit Noah morgen abend zurück — , und dann war er
weg. Die Katze miaute verschreckt und folgte Delia bis in ihr Zimmer.
    Auf ihrer Kommode stand eine
Weihnachtskarte mit einem Hundert-Dollar-Scheck. Festtagsgrüße, stand
auf der Karte, und in Mr. Millers Blockschrift: Ein kleines Dankeschön, weil
Sie unsere Leben wieder in Ordnung gebracht haben. In Dankbarkeit, Joel und
Noah.
    Nett von ihm, dachte sie. Auch,
daß er schleunigst das Haus verlassen hatte, bewies Takt. Es wäre anstrengend
gewesen ohne Noah als Puffer.
    Sie verbrachte den Nachmittag
auf dem Sofa, las ein extra dickes Buch aus der Bücherei: Dr. Schiwago. Der Wind trieb Laubreste gegen die großen Fenster. George schlief
zusammengerollt an ihren Füßen. Es wurde langsam dunkel, und der Lampenschein
bildete ein honigfarbenes Nest.
    Wenige Minuten vor sechs nahm
sie die Fernbedienung vom hinteren Tisch und schaltete den Fernsehapparat ein.
Auf WKMD warb ein einäugiger Pirat für Seegrundstücke. In einem Zimmer
versprühte eine Frau Luftverbesserer. Dann ein langer Tisch und daran
aufgereiht die Nachrichtensprecher — ein Schwarzer mit Bart, ein Weißer mit
rosa Gesicht und eine fabelhafte Blondine im Hosenanzug. Delia dachte erst, die
Blondine sei Ellie Miller, bis der schwarze Sprecher sie Doris nannte. Doris
berichtete von einem Banküberfall in Ocean City. Der Räuber war als
Weihnachtsmann verkleidet, sagte sie. Sie redete, ohne mit ihren rotgeschminkten
Lippen die Zähne zu berühren.
    Delia war irritiert über das
Tempo, mit dem alles ablief. Sie war Fernsehen nicht mehr gewöhnt. Sie fand,
ihren Augen wurde viel zuviel zugemutet, und während des nächsten Werbeblocks
sah sie eine Weile weg.
    »Jetzt kommt Ellie mit dem
Wetter«, sagte der Bärtige. »Na, Ellie, haben wir vielleicht doch weiße
Weihnachten?«
    »Keine Chance, Dave«, konterte
Ellie in flotter Fernsehmanier, als hätten die beiden schon zusammen im
Sandkasten gespielt. Ihr Gesicht paßte allerdings nicht zu ihrer Stimme. Es war
zu weich, zu offen — ein hübsches Gesicht mit großem roten Mund, überraschend
blauen Augen und rosig geschminkten Apfelbäckchen. Auf dem Kopf eine
silberblonde Flaumwolke. Der weiße Angorapullover mit dem runden Ausschnitt
verwischte ihre Körperkonturen.
    Delia stand auf und stellte
sich vor den Fernseher. Ellie schob die Wetterkarten auf einer Aluminiumrinne
hin und her. Irgendwo hinter der gemalten Kulisse — Marschland und unmögliche
Weidenkätzchen — saß Noah, doch im Augenblick dachte Delia nicht an Noah. Sie
prägte sich Ellie ein, versuchte hinter ihren himmelblauen Puppenblick zu
kommen.
    »Weiterhin kalt... stürmische
Winde...« Delia neigte den Kopf und horchte, die Fingerspitzen gegen ihre Wange
gedrückt.
    Nach dem Wetter kam Sport, und
Delia drehte sich um, verließ das Familienzimmer, ging durch die Küche, den
Flur entlang ins Eheschlafzimmer. Sie öffnete den Wandschrank und betrachtete
die Kleidungsstücke. Mr. Millers Anzüge schlitterten die Kleiderstange entlang
nach rechts, wo alles leer war. Das Regal war auf der rechten Seite ebenfalls
leer. Anscheinend hatte Ellie, anders als Rosemary Bly-Brice, als sie ging,
alles mitgenommen. Trotzdem zog Delia jede Schublade in Ellies Kommode auf. Sie
fand lediglich einen Knopf, an dem ein blaues Fädchen hing.
    Als sie wieder ins
Familienzimmer kam, brachte der Fernseher gerade die nationalen Nachrichten. Es
war Monate her, seit sie Nachrichten gesehen hatte, aber anscheinend hatte sie
nichts verpaßt: Der Planet stürzte weiter der Katastrophe entgegen. Mitten im
Satz schaltete sie ab und ging, um sich etwas zu essen zu machen.
     
    * * *
     
    Als sie am nächsten Morgen
erwachte, schien die Sonne. Am hellen, harten Licht erkannte sie, daß es sehr
kalt war. Außerdem lag George unter ihren Arm gekuschelt, was er nur bei
bitterster Kälte tat.
    Erst als sie ihren Tee trank,
fiel ihr wieder ein, daß Weihnachten war. Weihnachten ganz allein! Die meisten
Leute fänden das vermutlich tragisch, aber sie freute sich darauf. Mit
Vergnügen trug sie ihre Tasse durchs stille Fiaus, immer noch im Nachthemd,
darüber die Badejacke; sie summte »We Three Kings«, und keiner hörte sie. In
Noahs Zimmer suchte sie sich in der obersten Kommodenschublade ein Paar
Wollsocken, die sie als Hausschuhe anzog. Dann erinnerte sie sich an sein
Geschenk und holte es sich vom obersten Regal seines Schranks. Auf dem
Schildchen stand Weil du keine richtigen Haussachen

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