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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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Bodenbelag, wahrscheinlich wegen der Rollstühle. Er knirschte
unter ihren Schuhen. Ihnen zur Rechten war ein verglastes Geschenkelädchen, und
durch eine Tür links sah Delia eine Cafeteria, zu dieser Tageszeit
menschenleer, doch sie roch immer noch unverkennbar nach gedünstetem Gemüse.
Vor den Aufzügen warteten mehrere alte Damen. Eine saß in einer Motorkarre, und
zwei standen auf Gehhilfen gestützt. Eine Stippvisite im Kampfgebiet — jetzt
wird’s ernst, dachte Delia insgeheim. Doch die Damen waren geschniegelt und
gestriegelt, und als sie Noah erkannten, lächelten sie allesamt. Heldenhaft
erschien Delia dieses Lächeln. Bei Alte-Leute-Leiden kannte sie sich aus, hatte
schließlich jahrelange Erfahrung mit Sams Patienten.
    Die Fahrstuhltür öffnete sich,
und eine schmale, alte Dame mit blaugetöntem Haar im Designerkleid kam zum
Vorschein. »Tut mir leid!« flötete sie. »Abwärts.«
    »Du bist unten, Pooky«, sagte
die Frau in der Karre. »Hier ist das Erdgeschoß.«
    »Ihr könnt gern mitfahren, aber
ich habe leider E gedrückt.«
    »Hier ist E, Pooky.«
    Die anderen ersparten sich jede
Diskussion. Sie stiegen umständlich ein, die meisten, indem sie irgendwo Halt
suchten. Zuletzt Noah mit Delia. Dann schloß sich die Tür hinter ihnen, und der
Aufzug setzte sich in Bewegung, aufwärts. Alle Insassen strahlten Noah an —
selbst Pooky, die die Welt nicht mehr verstand, weil es nicht abwärts ging. Im
ersten Stock stieg eine Frau mit einer Einkaufstüte aus. Im zweiten sagte Noah:
»Wir müssen raus«, und Delia und er betraten einen langen Gang. Mehrere Frauen
kamen ihnen hinterher: es schepperte metallisch, Räder surrten. Nur Pooky
blieb, wo sie war, schaute unerschütterlich — Augen geradeaus als die Aufzugtür
zuglitt.
    »Manchmal fährt sie so den
ganzen Tag, aufwärts, abwärts«, erzählte Noah Delia.
    Hier unterschied sich nichts
von anderen Apartmenthäusern, außer daß an beiden Wänden Geländer angebracht
waren. In regelmäßigen Abständen befanden sich helle Holztüren, jede mit einem
kleinen Guckloch in Augenhöhe. Noah hielt vor der vierten Tür rechts. Nathaniel
A. Moffat, Fotograf, stand auf einer Visitenkarte, die Adresse, eine Straße
in Cambridge, war durchgestrichen. Als Noah die Klingel drückte, erklang von
innen ein einziger warmer Ton.
    »Ist das mein Lieblingsenkel?«
rief ein Mann.
    »Genau«, rief Noah zurück.
    »Ich bin doch sein einziger Enkel«, kicherte Noah.
    Die Tür öffnete sich, doch
anstelle des alten Mannes, den Delia erwartet hatte, stand eine kleine,
stämmige Frau vor ihnen und lächelte sie an. Sie war höchstens zwischen dreißig
und vierzig. Ihr Gesicht war rund wie eine Aprikose, sie hatte rosa gefärbte
Locken und trug ein oranges Pulloverkleid mit einem Schlüssellochausschnitt.
Ihre Schuhe waren auch orange, Pumps mit freien Zehen, stellte Delia fest, als
sie intuitiv — in Erwartung weißer Schwesternsandalen — einen Blick auf die
Füße warf, um sich die Anwesenheit dieser Frau zu erklären. »Hallo! Ich bin
Binky«, sagte sie zu Delia. »Hallo, Noah. Kommt rein.«
    Das Wohnzimmer, in das sie
eintraten, war ursprünglich sicher so modern wie das übrige Gebäude gewesen,
aber Delia sah nur antikes Mobiliar, dunkel, verschnörkelt und wuchtig, ganze
Berge. Viel zu viele Möbel drängten sich auf viel zu engem Raum, als hätten sie
früher mehrere, viel größere Zimmer gefüllt. Einen Augenblick hatte Delia
Schwierigkeiten, Noahs Großvater ausfindig zu machen. Er erhob sich aus den
Tiefen eines rostbraunen Samtsessels mit Weinrankenlehnen, neben dem ein
vierbeiniger Metallstock stand. Ungestützt bewegte er sich voran und reichte
ihr die Hand. »Sie sind Delia«, sagte er. »Ich bin Nat.«
    Er war einer jener Männer, die
im Alter besser aussahen, als sie je in ihrer Jugend ausgesehen hatten — weißer
gestutzter Bart, wettergegerbtes Gesicht, ein hagerer, kräftiger Körper. Er
trug eine Tweedjacke und graue Hosen. Sein Händedruck war kraftvoll und
energisch.
    »Danke, daß Sie gekommen sind«,
sagte er. »Ich wollte doch sehen, von wem mein Enkel so schwärmt.«
    »Also vielen Dank für die
Einladung.«
    »Wollen Sie Binky nicht Ihren
Mantel geben?«
    Delia wollte antworten, daß sie
ihn lieber anbehielte — sie konnte nur kurz bleiben; doch dann sah sie den
gedeckten Tisch vor dem Sofa: eine Schale mit Kuchen, vier Gedecke, eine
Teekanne, versteckt unter einem elfenbeinfarbigen Leinenwärmer.
    Sie reichte Binky ihren Mantel,
und Nat bot

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