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Kleine Abschiede

Kleine Abschiede

Titel: Kleine Abschiede Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tyler
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geweigert, unser großes Haus aufzugeben, auch als
die Mädchen schon längst erwachsen und über alle Berge waren. Sie meinte immer:
Was, wenn sie aus irgendeinem Grund zurückkommen wollen? Und sie sind
zurückgekommen, darauf können Sie Gift nehmen! Alle vier tauchten bei der
kleinsten Krise wieder zu Hause auf, nur weil sie ein Zuhause hatten, wo sie
auftauchen konnten, wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen... ›Herr Gott,
Thel‹, habe ich gesagt, ›wir können doch nicht ein Leben lang diese Mädchen auf
der Pelle haben! Nimm dir ein Beispiel an den Katzen‹, habe ich gesagt, ›die
füttern ihre Jungen, bis sie groß genug sind, aber wenn sie ihnen dann noch
über den Weg laufen, wollen sie nichts mehr von ihnen wissen. Denkst du,
Menschen sollen das anders machen?‹«
    »Aber natürlich!« protestierte Binky,
und sie und Delia tauschten ein Lächeln.
    Doch Nat spottete in seinen
Bart. »Quatsch«, sagte er zu Noah. Noah leckte sich gerade Glasur vom Daumen.
»Jedenfalls«, sagte Nat, »habe ich diese Rückblenden gehabt. Manchmal hat
einfach das eine Bein nicht mehr mitgespielt, meist später am Tag. Bis zu dem
Punkt, wo ich kaum noch abends die Treppe raufkam; da wußte ich, dort konnte
ich nicht weiter wohnen. Also habe ich hier angerufen und gesagt, ›Hört mal‹,
habe ich gesagt, ›hat meine Frau uns nicht irgendwann auf eure Warteliste
gesetzt?‹ Und so bin ich in Senior City gelandet. Senior City: Oh, Gott. Was
für ein gräßlicher Name.«
    »Es wirkt aber sehr... gut
durchorganisiert«, sagte Delia.
    »Genau. Durchorganisiert. Das
ist das richtige Wort!« Er drehte sich schwungvoll (seine Bewegungen, auch die
schmerzhaftesten, hatten etwas Explosives, Ungezügeltes) und ging zu seinem
Stuhl zurück. »Wie die Akten im Aktenschrank«, sagte er und ließ sich langsam
nieder. »Wir sind vertikal durchorganisiert. Je schwächer wir werden, desto
höher wohnen wir. Das Stockwerk unter uns ist für die Kerngesunden. Manche
Leute dort gehen noch zur Arbeit oder schneiden ihre Coupons; spielen Golf und
Ping-Pong, verreisen Weihnachten in den Süden. Dieses hier ist für die
Halbkranken, hm, Halbgesunden. Für Leute, die rollstuhlgerechte Tische brauchen
oder doch ein bißchen Hilfe. Im Dritten ist die Pflegestation.
Krankenschwestern, Betten mit Gitter... jeder hier hofft, daß er stirbt, bevor
er im Dritten landet.«
    »Oh, das stimmt nicht!« sagte Binky
entrüstet. »Im Dritten ist es ganz reizend! Nimm noch ein Rosinentörtchen,
Noah.«
    »Ich finde das alles andere als
›reizend‹«, sagte Nat zu Delia. »Theoretisch bin ich durchaus für Senior City,
verstehen Sie mich nicht falsch. Immer noch besser, als seinen Kindern zur Last
zu fallen. Aber irgendwas an der ganzen Einrichtung kommt mir so ungemütlich
vor, so symbolisch. Verstehen Sie, ich habe mir das Leben immer wie eine von
den Leitern vorgestellt, die auf Spielplätzen die Rutsche raufführen — sozusagen
eine Jahresleiter: höher und höher, und dann huups ! geht es über den
allerhöchsten Punkt, abwärts, und hinter mir rücken die anderen nach. Deshalb
die Frage, ob Thelma uns nicht was mit mehr Stockwerken aussuchen konnte?«
    Delia lachte, und Nat lehnte
sich in seinem Sessel zurück und grinste sie an. »Naja«, sagte er, »lassen wir
das. Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen, Delia. Noah hat erzählt, was
Sie alles für die beiden getan haben.«
    Sie reagierte auf ihr
Stichwort. »Ich freue mich auch«, sagte sie und erhob sich.
    »Wenn Sie Lust haben, kommen
Sie doch wieder mit zum Tee, wenn Sie Noah das nächstemal bringen.«
    »Mach’ ich«, versprach sie.
    Sie glitt in ihren Mantel, den
Binky gebracht hatte, und Noah rangelte sich in seine Jacke. »Fahren Sie
vorsichtig«, sagte Binky, als sie die Tür öffnete. Ihr Schlüssellochausschnitt
gab den Blick auf weiche, rosiggepuderte Haut und ein bißchen Busen frei. War
es das, oder war es Nats leicht anzügliches Grinsen, daß Delia plötzlich
überlegte, ob Binky womöglich Nats Freundin war?
     
    * * *
     
    Joel hatte keine Ahnung, wer
Binky war. Er wußte nicht einmal von ihrer Existenz. »Binky? Binky Wer?« fragte
er. »Binky, was für ein Name?«
    Sie aßen in der Küche zu Abend,
sie zwei allein. Noah hatte sich im letzten Moment mit Kenny Moss verabredet.
Zuerst war Delia beschäftigt umhergelaufen, aber schließlich sagte Joel:
»Setzen Sie sich, Delia«, so freundlich, als hätte er ihre geheimsten Gedanken
erraten. »Erzählen Sie, wie es Noah

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