Kleine Freie Männer
Wurzelgemüse-Frage, denke ich«, sagte
Fräulein Tick. »Zwei Karotten, bitte.«
Tiffany gab sie ihr.
»Danke. Bist du so weit? Um die Hexenschule zu
finden, musst du einen hohen Ort in der Nähe aufsuchen, 51
ganz nach oben klettern, die Augen öffnen und …«
Fräulein Tick zögerte.
»Ja?«
»… und sie dann noch einmal öffnen.«
»Aber …«, begann Tiffany.
»Hast du noch mehr Eier?«
»Nein, aber …«
»Dann gibt es auch keine Bildung mehr. Und jetzt
möchte ich dich etwas fragen.«
»Hast du Eier?«, sagte Tiffany sofort.
»Ha! Hast du am Fluss sonst noch etwas gesehen, Tiffany?«
Stille füllte plötzlich das Zelt. Die Geräusche schlechter Orthografie und erratischer Geologie filterten von draußen herein, als sich Tiffany und Fräulein Tick gegenseitig in die Augen sahen.
»Nein«, log Tiffany.
»Bist du sicher?«, fragte Fräulein Tick.
»Ja.«
Sie setzten das Blickduell fort. Aber Tiffany konnte
noch länger starren als eine Katze.
»Ich verstehe «,sagte Fräulein Tick und wandte den Blick ab. »Na schön. Wenn das so ist … Als du vor
meinem Zelt stehen geblieben bist, hast du ›Aha‹ gesagt, was recht selbstgefällig klang. Hast du dabei gedacht: Dies ist ein sonderbares kleines Zelt mit einem geheimnisvollen kleinen Schild, und wenn ich es betrete, könnte ein
Abenteuer für mich beginnen. Oder dachtest du: Dies
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könnte das Zelt einer bösen Hexe sein, für die man Frau Schnappich gehalten hat, und wenn ich es betrete, trifft mich vielleicht ein böser Zauber. Schon gut, du brauchst jetzt nicht mehr zu starren. Deine Augen tränen.«
»Ich habe beides gedacht«, erwiderte Tiffany und
blinzelte.
»Aber du bist trotzdem hereingekommen. Warum?«
»Um mehr herauszufinden.«
»Gute Antwort. Hexen sind von Natur aus neugierig«,
sagte Fräulein Tick und stand auf. »Ich muss jetzt gehen.
Hoffentlich sehen wir uns wieder. Ich habe noch einen
guten Rat für dich, gratis.«
»Wird er mich irgendetwas kosten?«
»Was?«, erwiderte Fräulein Tick. »Ich habe doch gesagt, dass er gratis ist!«
»Ja, aber mein Vater meint, dass einen ein solcher Rat oft teuer zu stehen kommt«, sagte Tiffany.
Fräulein Tick schniefte. »Man könnte diesen Rat als
unbezahlbar bezeichnen«, sagte sie. »Hörst du mir zu?«
»Ja.«
»Gut. Nun … wenn du dir selbst vertraust …«
»Ja?«
»… und an deine Träume glaubst …«
»Ja?«
»… und deinem Stern folgst …«, fuhr Fräulein Tick fort.
»Ja?«
»… dann wirst du trotzdem von Leuten übertroffen, die
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ihre Zeit damit verbringen, hart zu arbeiten und zu lernen und nicht so faul zu sein. Auf Wiedersehen.«
Das Zelt schien dunkler zu werden. Es wurde Zeit zu
gehen. Tiffany fand sich draußen wieder und sah, dass die anderen Lehrer ihre Buden abbauten.
Sie sah sich nicht um. Sie wusste genug, um sich nicht umzusehen. Entweder stand das Zelt noch da, was eine
Enttäuschung gewesen wäre, oder es war auf geheim-
nisvolle Weise verschwunden, und das wäre beunruhigend gewesen.
Auf dem Heimweg fragte sich Tiffany, ob sie die
kleinen rothaarigen Männer hätte erwähnen sollen. Darauf hatte sie aus mehreren Gründen verzichtet. Inzwischen war sie gar nicht mehr sicher, ob sie sie wirklich gesehen hatte, und außerdem ahnte sie, dass die kleinen Männer gar nicht gesehen werden wollten. Zudem empfand sie es als
angenehm, etwas zu haben, von dem Fräulein Tick nichts wusste. Ja, das war der beste Teil. Tiffany fand Fräulein Tick ein wenig zu schlau.
Sie kehrte nicht direkt nach Hause zurück, sondern ging zum Weh-Hügel außerhalb des Dorfes. Er war nicht sehr
groß und nicht so hoch wie das Kreideland über der Farm, erst recht nicht so hoch wie die Berge.
Der Hügel war eher … gemütlich. Oben gab es einen
flachen Bereich, wo nichts wuchs, und Tiffany wusste von einer Geschichte, deren Held einst an diesem Ort gegen einen Drachen angetreten war, und das Blut des Drachen hatte hier den Boden verbrannt. Eine andere Geschichte berichtete von einem Schatz unter dem Hügel, vom
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Drachen bewacht. Und in einer weiteren Geschichte hieß es, dass an dieser Stelle ein König in einer Rüstung aus purem Gold begraben lag. Es gab viele Geschichten über den Hügel. Es war erstaunlich, dass ihr Gewicht ihn noch nicht platt gedrückt hatte.
Tiffany stand in dem unbewachsenen Bereich und
genoss die Aussicht.
Sie sah das Dorf, den Fluss, die Heimfarm, das Schloss des Barons, und jenseits der ihr vertrauten Felder
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