Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
Blume, das Veilchen,
die aufgeblühte Rose,
die einen solchen Duft verbreitet und
ausströmt, dass er uns alle sättigt.
Einen über jede Blume erhabenen Duft
hat die Mutter des erhabenen Herrn.
Mittelalterliche Lyrik Frankreichs II, XXIV,
Str. 2, 114, Übersetzung nach Dietmar Rieger
In der Dichtung des gebildeten Tiroler Minnesängers Friedrich von Sonnenburg (2. Hälfte des 13. Jh.s) wurde die Verkündigung Gabriels an Maria (Lk 1, 28–33) zum Werbegesang. Das Fest Mariä Verkündigung ist am 25. März, also ganz nahe am Frühlingsbeginn.
Sich, gotes tohter, wiltu mich
niht mieten, künginne,
so sage ich, waz ein hoher mantelgabe
mit dir begangen hat:
Er nam sich dir ze dienen an
in minniclicher minne,
er warp ez tougen wider dich –
do taete du, swes er bat.
Dir gienc sin bete und siniu wort
durch oren und durch ougen;
al dar quam siner vröuden hort
ze dir geslichen tougen:
Er was dir minniclichen bi
mit warheit sunder spot.
Schau, Gottes Tochter, willst du mich
nicht lohnen, Königin,
so sage ich, was ein hoher Mantelgeber
mit dir begangen hat:
Er entschloss sich, dir zu dienen
in minniglicher Liebe,
er bemühte sich heimlich um dich,
da tatst du, worum er bat.
Dir gingen seine Bitte und seine Worte
durch Ohren und durch Augen.
Der Hort seiner Freuden kam
heimlich zu dir geschlichen:
Er war liebend bei dir
in Wahrheit, ohne Scherz.
Friedrich von Sonnenburg Nr. 62
Der Name «von Sonnenburg» bezieht sich wohl auf das gleichnamige Stift im Pustertal, dessen Dienstmann der Dichter vermutlich gewesen ist. Die geistlichen Damen dort werden keinen Grund gehabt haben, an einem solchen Lied Anstoß zu nehmen.
Minne war also eine lebensvolle Metapher. Was die Dichtung thematisierte, konnte für Menschen lebenswirklich werden – oder wurde wirklich (nur) gespielt. Sie ist ein Spiel der Geschlechter, aber Sexualität ist nicht ihr vordergründiges Thema. Darum konnte sie auch ein Ausdruck der höchsten religiösen Geheimnisse sein, wobei das Geschlecht nicht zurückgedrängt, sondern im dialektischen Sinne «aufgehoben» wird.
In einer Minne-Beziehung wird vorausgesetzt, dass zwei Menschen einander in ihrer Individualität wertschätzen, aber eingebundenin ein bestimmtes Ritual. Ziel dieser Beziehung ist die Vereinigung, aber das kann eine Utopie bleiben oder, bei Geistlichen, Symbol für die Vereinigung mit Gott sein. Seinen Ausgang nimmt dieses erotische Spiel von der menschlichen Natur. Es kann auch wieder dorthin führen. Dazwischen, weit tragend und bedeutungsvoll, findet man die schönsten Blüten der europäischen Kunst.
Abb. 4: Rückseite eines Spiegels mit Minne-Pärchen, 14. Jh., Louvre
(Foto Ginevra Kornbluth)
Die bedeutendste Sammlung von Minneliedern mit idealisierten Portraits der Dichter ist die berühmte Manessische Liederhandschrift.Die Dichtungen wurden um 1300 unter Beteiligung des Dichters Johannes Hadlaub im Auftrag des Zürichers Rüdiger Manesse und dessen Sohnes gesammelt. So wertvoll diese Überlieferung ist, so sehr muss man dabei bedenken: Das ist nicht «das» Mittelalter, sondern ein Bild davon, das man sich im Zweiten Mittelalter von vergangenen Zeiten gemacht hat.
Das bedeutet konkret, dass wir uns heute oft Bilder vom Mittelalter aus zweiter Hand machen. Es gibt viel weniger Darstellungen aus dem frühen und hohen Mittelalter, und sie sind schwerer zu deuten. Im späten Mittelalter erfolgte aber bereits eine erste Romantisierung und Heroisierung der Gestalten, die man in Geschichtswerken und Dichtungen vorfand.
II Haus und Hof
D as zweite Kleid der Menschen ist das Haus. «Festes Haus» ist auch ein anderer Name für eine Burg. In den Wohnverhältnissen spiegeln sich – zum Teil heute noch rekonstruierbar – die sozialen und familiären Rollen; Beziehungen werden dort gelebt und dargestellt. Das Haus ist innen und außen der wichtigste Schauplatz der Repräsentation, ja es heißt «Haus», wenn metaphorisch eine herrschende Gruppe gemeint ist. Das Haus – in beiden Bedeutungen – stellt das Ambiente für das höfische Spiel, und dort werden Feste und besondere kulturelle Ereignisse inszeniert. Noch der kleinste Hof bildet eine ähnliche Struktur nach wie das schönste Schloss.
Bauernhof
Bauern waren mit wenigen Ausnahmen unfrei, d.h. einem adeligen Haus zugeordnet. Frei zu sein bedeutete nach mittelalterlichem Verständnis, mit eigener Hand für sein Recht und für den Frieden kämpfen zu können, und das war nicht ihre Aufgabe. Nur manchmal, bei großer Gefahr,
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