Kleine Kulturgeschichte des Mittelalters
mehr tun, als zu beten, oder man hatte sich «eingekauft» und durfte eines der besseren Zimmer im oberen Stock bewohnen. Als «Spitalmeister» fungierte meistens eine der führenden Personen in der Stadt. Weitgehend ausgesperrt wurden die Aussätzigen (vgl. S. 38). Diese armen Menschen mussten sich, wenn sie in der Stadt bettelnd unterwegs waren, deutlich durch Lautzeichen zu erkennen geben.
Eine kleine Gruppe von Menschen wurde zwar von der Stadt bezahlt, übte aber «unehrliche» Gewerbe aus. Das waren beispielsweise jene, die mit der Entsorgung zu tun hatten, also z.B. Abdecker und Reiniger von Abfallgruben. Manche der Gerichtsdiener gehörten eher zur Mannschaft der Henker; indes galt dessen Gewerbe durchaus nicht überall als «unehrlich». Boten, Ausrufer und Nacht- und Feuerwächter wurden als ehrsame Leute angesehen. Sie wurden, wie die Kirchendiener, auch mit Gewand versorgt.
Eine weitere für das Stadtleben nicht unerhebliche Randgruppe waren die Dirnen. Da eine verhältnismäßig große Anzahl von jungen Männern nicht oder erst spät einen eigenen Hausstand gründen konnte, war deren «Versorgung» den Bürgern «zum Schutz ihrer Frauen und Töchter» durchaus willkommen. Aus der Prostitution gab es zwei Ausstiegsmöglichkeiten: Erstens versuchte man, vornehmlich ab dem 14. Jahrhundert, die Frauen zu missionieren und in klosterartige Gemeinschaften einzuweisen, die meist der heiligen Magdalena geweiht waren; zweitens konnten sie den Weg in eine «ordentliche» Ehe finden.
Sondergruppen
Sondergruppen im sozialen Gefüge einer Stadt waren die Mitglieder der Höfe, die Adeligen, der Klerus und die Juden. Letztere wohnten in der Regel, wie auch die Gewerbetreibenden, in speziellen Vierteln der Stadt. Ein Ghetto im heutigen Wortsinn gab esnicht; der Begriff geht auf ein Stadtviertel in Venedig zurück, in dem seit dem 16. Jahrhundert die jüdische Gemeinde lebte. Es konnte zwar vorkommen, dass das Judenviertel abgesperrt wurde, durch eine Sabbatkette oder das Schließen eines Tores, aber das war vor allem eine Maßnahme, um die Sabbatruhe zu sichern. Da die Juden, ebenso wie der Adel, auf den Hof des Stadtherrn hin orientiert waren, der sie mit Privilegien schützte, lagen beider Wohnviertel sehr oft nebeneinander.
Für das jüdische religiöse Leben brauchte es wegen der Feste und der Reinheitsgebote eine gut funktionierende Infrastruktur, für die die jüdische Gemeinde aufzukommen hatte, ebenso wie für die Steuern an die «Schutzherren». Allerdings trugen die wenigen, die im Geldgeschäft arbeiteten, den Löwenanteil davon. Diese Personen nahmen auch hohe Ausgaben für die sozialen und religiösen Dienste auf sich.
Jede größere jüdische Gemeinde hatte eine eigene Mikwe, das rituelle Bad, das in «reinstem, lebendigem Wasser» durch vollständiges Untertauchen vollzogen wird. Daher wurden in Städten oft tiefe Anlagen gebaut, die bis zum Grundwasser hinunter reichten. Die religiöse Reinigung ist für jede verheiratete Frau nach der Menstruation und nach einer Geburt vorgeschrieben. Auch für Männer gibt es, besonders vor religiösen Zeremonien, solche Reinigungsvorschriften.
Im außerreligiösen Alltag unterschied sich das Leben der Juden nicht wesentlich von dem der zeitgenössischen Christen. Man tauschte Küchenrezepte aus, beschäftigte die gleichen Künstler und las die gleichen Romane. Man besuchte einander bei Hochzeiten. Die jüdischen Begräbniszüge führten durch die Stadt oder, wenn kein jüdischer Friedhof in der Nähe war, weit übers Land. Nur in der Bildung waren viele Juden, besonders aus wohlhabenden Familien, den Christen überlegen. In größeren Gemeinden gab es gelehrte Rabbiner, die für einen großen Umkreis auch als Auskunftspersonen in religiös-rechtlichen Fragen dienten. Ihre «Responsen», d.h. Antworten auf schriftlichvorgelegte Fragen, sind eine großartige Quelle für die Alltagskultur.
Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Judenverfolgungen als das Verbrechen, das sie selbst nach den Maßstäben ihrer Zeit waren: Es gab weder religiöse noch kirchliche oder soziale Gründe dafür. Die Vorwürfe des Ritualmordes und der Hostienschändung sind haarsträubender Unsinn, obwohl Darstellungen davon und Gedenktafeln bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überdauerten. Man muss selbst an die Transsubstantiation glauben, um eine Hostie rituell «schänden» zu wollen. Die Brunnen haben – meist durch Unwissenheit und ohne Absicht – die Christen selbst
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