Kleine Morde für Zwischendurch #1 (German Edition)
wundre mich fast, dass ich ihn nicht sofort erkannt habe.
Eine Weile geht Marco neben mir. Er lebt jetzt in der Schweiz und amüsiert uns mit seinem besten Schwyzerdütsch! Auch er hat nie geheiratet. Er sieht mich von der Seite an, als er das sagt.
Du bist so schön, Tine, noch schöner als früher.
Allein mit Bettina stehe ich schließlich schweigend bei den Trampeltieren, die sich kein bisschen für uns interessieren.
„Ich hätt Yvonne nit fahre lasse solle. Ich hab doch g’sehe, dass sie getrunken hat“, sagt sie. „Aber dass du keinen Führerschein hattesch, fiel mir erscht ein, als ihr schon weg wart.“
„Hätte mir auch passieren können“, lüge ich. Yvonne ist nicht gegen den Baum gefahren, weil sie getrunken hat, sondern weil sie es wollte.
„Glaub mir, es ist am besten so.“ Ihre letzten Worte dröhnen in meinem Kopf, bis die Feuerwehr mich aus dem Wrack herausschweißt. Sie hat sich nicht zum ersten Mal nach dem Tod gesehnt, doch bis heute verstehe ich nicht, warum sie mich mitnehmen wollte.
Bettina legt den Arm um meine Schultern. Wir schweigen.
Es dauert eine ganze Weile, bis wir uns von der Erinnerung an Yvonne erholt haben und wieder zurück zur Gaststätte gehen.
Wenn der Unfall nicht gewesen wäre, wären wir damals zusammen gekommen, Tine, du und ich?
Zum Abendessen setzt sich wieder Frank neben mich. Ich glaube, ich erinnere mich jetzt doch an ihn. Kam neu in der 12 und wurde leicht rot. Reli-Kurs. Damals haben wir kaum miteinander gesprochen, aber heute holen wir alles nach. Ich bekomme bestimmt Muskelkater vom vielen ungewohnten Lächeln und Lachen.
Unsere Nachbarn wechseln; die meisten zirkulieren, um möglichst viele alte Freundschaften und Bekanntschaften aufzufrischen. Es wird langsam dunkel und die ersten verabschieden sich. Jemand setzt sich uns gegenüber, ich brauche nicht einmal hinzuschauen um zu wissen, dass es Marco ist. Kein anderer löst diesen heißen Stich in den Magen aus. Ich schaue ihm über den Rand meines Weinglases kurz in die Augen, bevor ich mich wieder Frank zuwende. Es geht mir gut, erkenne ich plötzlich. Zum ersten Mal seit langem geht es mir richtig gut.
Ich liebe dich noch immer, Tine, noch immer.
Als Frank Richtung Toiletten verschwindet, beugt sich Marco zu mir. „Hast du nachts schon mal die Uhus gesehen? Ihre Augen?“
Seine Augen sind dunkel und es knistert zwischen uns. Er steht auf und reicht mir die Hand. Ich folge ihm den dunkler werdenden Weg entlang. Wir sind allein. Marco zieht mich zu einem dicken Baum und lehnt mich mit dem Rücken an den rauen Stamm. Seine Hände stemmen sich rechts und links neben mir gegen die Borke. Er lächelt und ich weiß, gleich wird er mich küssen. Damals hätte ich einiges für diese Situation gegeben, aber jetzt bin ich mir plötzlich nicht mehr sicher. Marcos Lächeln hat sich verändert, seine Oberlippe ist leicht verächtlich nach oben gezogen und sein Körper bedrängt meinen auf unangenehme Art. Ich suche nach einer witzigen Bemerkung, die die Situation auflockern könnte. Sein Mund nähert sich und seine Zähne beißen in meine Unterlippe.
Ich schreie auf.
„Pst“, sagt er, „ich weiß schon, wie es dir gut tut. Besser als dieser langweilige Leichendoktor, dem du schöne Augen machst.“
„Marco, bitte ...“
Jetzt hält er meine Arme fest und drückt sie gegen den Baum.
„Sei brav und tu genau, was ich dir sag, dann haben wir beide unseren Spaß. Oder magst du’s lieber etwas härter? Soll ich dich laufen lassen und wieder einfangen? Deiner Freundin hat das sehr gefallen.“
Da ist wieder dieser heiße Stich im Magen. Doch dieses Mal erkenne ich ihn als Angst.
„Meine Freundin?“ Meine Stimme krächzt.
„Ja, die süße, unschuldige Yvonne! Sie hat sich wunderbar gewehrt!“
Ich sehe Yvonnes tränenverschmiertes Gesicht neben mir im Auto und ihr schmutziges Kleid.
„Er hat mich vergewaltigt“, sagt sie.
„Wer?“, frage ich entsetzt. Sie antwortet nicht.
„Was hast du vor?“, frage ich.
Sie starrt durch die Windschutzscheibe hinaus in die Nacht.
„Glaub mir, es ist am besten so“, sagt sie und tritt das Gaspedal durch. Der Wagen schießt nach vorne und dann ist da nur noch Schwärze und Schmerz.
„Du warst es also“, flüstere ich.
„Hat sie’s dir nicht erzählt? Ich dachte, ihr wart beste Freundinnen.“
So wie Marco es sagt, klingt es lächerlich.
Doch ich verstehe jetzt, dass sie es mir nicht erzählen konnte. Sie wusste, dass ich Marco liebte
Weitere Kostenlose Bücher