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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Klonovsky
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auf meinem Schreibtisch, weil der ursprünglich Geladene sich der Herausforderung nicht stellen beziehungsweise nicht auf die Schnelle 20 Kilo abnehmen wollte. Nach einigem Zögern sagte ich zu. Letzteres bezog sich auf das beigelegte Streckenprofil, in dessen erster Hälfte sich ein Berg befand, ein Alpenpass. Ich war mir nicht sicher, ob ich dort hinüberkommen würde. Die Angst Lance Armstrongs vor Niederlagen ist nichts gegen meine vor Blamagen. Zufällig las ich die Geschichte eines Hamburger Journalisten, der testen wollte, ob ein Normalsterblicher eine Tour-de-France-Bergetappeabsolvieren könne, und sich nacheinander über den Col du Tourmalet (2115 m) und den Col du Aubisque (1709 m) gequält hatte. Mir stand nur ein gewisser Col de Rousset im Wege (1254 m). Das, machte ich mir Mut, musste wohl zu schaffen sein.
    Als ich aus Frankreich wiederkam, war ich überzeugt, bislang partiell falsch gelebt zu haben. Das ist das Wesen des Evidenzerlebnisses. Der erste Château Margaux (es war der 82er). Carlos Kleiber beim Dirigieren zusehen. Die ersten Seiten Nabokov. Der Premierenblick in einen gut gefüllten Münchner Biergarten. Evidenzerlebnisse überkommen einen mit umstülpender Wucht (manche gehen deshalb so weit, eines ihrer Evidenzerlebnisse zu heiraten).
    Nun also die Tour de France, aus doppelter Perspektive.
    Die Teilnehmer der Amateur-Etappe erhielten Original-Räder, Original-Mannschaftsbekleidung und Original-Verpflegung. Morgens ging es an der Seite ehemaliger Profis, eskortiert von einem Motorrad-Kamerateam und zwei Begleitfahrzeugen, auf die 150 Kilometer lange Strecke, die von Valence nach Valence führte – man musste ja wieder im Hotel ankommen. Es herrschte brütende Hitze, kein Wölkchen stand am Himmel.
    Was das Sich-Blamieren anbetraf, bedurfte ich des Berges gar nicht, ich schaffte es schon oder noch in Valence. Der ganze Pulk überquerte eine Kreuzung, ich fuhr als Letzter, die Ampel schaltete auf Rot, ich zog die Bremsen. Nun geschah, was in der Klickpedal-Gewöhnungsphase nahezu jedem x-mal widerfährt, nur eben selten vor so großem Publikum. Selbstverständlich hatte ich nicht mehr an diese Dinger gedacht – ich fuhr zum ersten Mal damit. Die Kreuzung war voll, ich nehme an, es handelte sich um den zentralen Knotenpunkt der Stadt, und Dutzende Franzosen sahen zu, wieder junge Mensch im Trikot einer der weltbesten Radfahrmannschaften, ein mehrere tausend Mark teures Gefährt unterm Hintern, in Zeitlupe umfiel und dabei so hektisch wie vergeblich versuchte, den arretierten Fuß aus der Pedalfalle zu zerren. Die Rotphase dauerte scheißlange. Es war nicht Sophie Marceau, die neben mir stand, aber ihr teils amüsierter, teils spöttischer Blick verfolgte mich in den nächsten Stunden ...
    Nach ungefähr 30 Kilometern begann der Berg, knapp 1000 Höhenmeter, aber bei gemäßigter Steigung. Wir nagten nur am Rand der Alpen. Die Original-Etappe würde tags darauf nach Grenoble weiterführen, und die nächste dann wirklich in die Hochalpen. Im unteren Drittel wehte ein mittelstarker Wind von vorn, der einerseits eine angenehme Kühlung brachte, andrerseits den Tritt erschwerte. Später gab es nur noch drückende Sonne und den glutheißen Asphalt. Ich strampelte die meiste Zeit an der Seite eines Berufskollegen, der 57 Jahre alt war – 21 Jahre älter als ich – und sehr trainiert wirkte. Mein Pulsmesser zeigte bald 160, dann 170 Schläge pro Minute, und ich kam mit dem Flüssigkeitsausgleich kaum hinterher. Aber ich fühlte mich ungekannt euphorisch. Es war großartig, sich die Serpentinen hinaufzuschrauben, die Ortschaften unter sich zu lassen, allmählich in eine immer kahlere Felsregion zu fahren – und alles aus eigener Kraft. Irgendwann aber begannen meine Beine schwer zu werden, hinter jeder Kurve wartete eine weitere, und kein Ende war in Sicht. Ich wurde langsamer und langsamer, während mein Fahrgemeinschaftspartner, den ich inzwischen
Alter Löwe
getauft hatte, zunehmend aufgedrehter wirkte. Schließlich blieb mir nur, ihm ein wohlwollend-resignatives »Bitte, es ist Ihr Berg« zuzuschnaufen. Er ließ mich hinter sich und strebte allein dem Gipfel entgegen.
    Ein Siebenundfünfzigjähriger! Das, beschloss ich mit traurigem Blick auf meine brennenden und immer mehr streikenden Beine, sollte dir ein Vorbild sein. Besagter Herr kam als Erster der Gruppe oben an, während ich mich damit tröstete, dort angekommen zu sein, ohne dass ich zwischendurch vom Rad hatte steigen müssen. Das

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