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Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren

Titel: Kleine Philosophie der Passionen - Radfahren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Klonovsky
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wirst du künftig öfter machen, beschloss ich beim Blick ins Tal. Nur schneller. Nicht in einem Tempo, wo einem Schmetterlinge durch die Speichen huschen könnten. Und höher hinauf. Was für ein Gefühl musste es erst sein, einen
richtigen
Alpenpass zu fahren, einen Col du Galibier zum Beispiel, 2646 Meter hoch und gar nicht weit von hier. Es sollte drei Jahre dauern, bis ich dort stand.
    Die restlichen reichlich 100 Kilometer führten zunächst hinab und dann wieder aus den Bergen hinaus, sie waren, mit anderen Worten, vergleichsweise langweilig, wenngleich die schiere Streckenlänge genügte, die Gruppe zunehmend zu dezimieren. Abends bekam jeder Teilnehmer eine Urkunde, im Anschluss folgte ein Mehrgänge-Menü, bei welchem ich feststellte, dass ich so ziemlich der einzige Raucher war. Ich erwähne das, um ein Anekdötchen einstreuen zu können, das an einem Ort im Lande einen Hauch von schlechtem Gewissen erzeugen sollte. Am Abend vor der Tour hatte ich angesichts des erschütternd radsportgerechten Speiseangebots – ein Berg Nudeln, ein Berg Kartoffelbrei, ein Berg Reis, ein paar trockene Steaks – so lange gequengelt und gemosert, bis der Veranstalter ein paar Flaschen Rotwein auffahren ließ, woraufhin der neben mir sitzende seinerzeitige Chefredakteur einer großen Hamburger Illustrierten spöttelnd fragte, ob ich denn tags darauf am Berg vielleicht noch eine Zigarette rauchen würde. Klar, warum nicht, sagte ich. Das wolle er sehen, sagte er. Und wir wetteten. Vor Zeugen. Alser tags darauf den Gipfel erreichte, erwartete ich ihn mit einer Zigarette im Mund – er hat die daraus resultierende Wettschuld, nämlich allen Anwesenden einen auszugeben, übrigens nie eingelöst –, wobei ich von dieser Fluppe beinahe ohnmächtig geworden wäre. Verglichen mit meinen sonstigen Gewohnheiten war dies zwar bloß eine homöopathische Dosis Gift, doch die genügte, um meinem in einer Art Rausch schwebenden Körper gewissermaßen einen Tiefschlag zu versetzen. Es gibt ja diese Theorie, dass Rauchen ein Zeichen von Gesundheit ist, weil kein kranker Mensch raucht; demzufolge wäre ich an jenem Mittag auf dem Col de Rousset krank gewesen. Es ist weniger eines der großen Rätsel als vielmehr einer der großen Zwiespälte der menschlichen Natur, dass ein auf Sport trainierter Körper mit so genannten Genussgiften oft schlechter klarkommt als ein unsportlicher, weil der Körper erstens auch auf den Konsum von Genussgiften trainiert werden will und zweitens Sport den Organismus genauso belastet wie Gift, nur eben mit anderen Folgen. Es scheint auf gegenseitige Ausschließlichkeit, auf ein Entweder-Oder hinauszulaufen, dem ich für den Bereich des Nichtleistungssports in puncto Alkohol auf den Folgeseiten freilich heftig widersprechen werde. Aber das Rauchen habe ich, von jenen seltenen Momenten abgesehen, wo mich ein Tête-à-Tête derart wuschig macht, dass ich zur Zigarette greifen muss, seit Jahren aufgegeben.
    Zurück zur Tour de France en miniature. Am Morgen danach sah ich die echten Profis. Ich war verblüfft darüber, wie dünn und ausgezehrt die meisten wirkten, wahre Hänflinge, denen man am liebsten einen Stuhl und etwas zu essen angeboten hätte. Andrerseits liefen diese kentaurischen Wesen auf Beinen umher, die aussahen, als habe Arno Breker sie modelliert oder als seien sie dafür vorgesehen, Hängebrückenzu halten. Später stürmten die Burschen vollkommen unangestrengt, aber in perfidem Tempo den Col de Rousset hinan, wobei sich die meisten noch unterhielten.
    Bei der Zielankunft in Grenoble stand ich bereits im Publikum. Vier Fahrer, hieß es, hätten sich abgesetzt und würden um den Tagessieg sprinten. Dass sie sich bereits auf der langen Zielgeraden befinden mussten, entnahm ich der zunehmend aufgeregter werdenden Stimme des Lautsprechermannes und den inzwischen gut erkennbaren Lichtern der Begleitfahrzeuge. Außerdem hatte die erste Reihe des Publikums, in welcher auch ich mich befand, damit begonnen, rhythmisch auf die Absperrgitter zu klopfen. Die Welle der Anfeuerungsbekundungen kam näher. Ich sah immer noch nichts von den Fahrern und beugte mich weit nach vorn. Da passierte es. Jemand schoss auf mich. Beziehungsweise an mir vorbei. Es war, als sei ein Schnellzug an mir vorübergerast. Der Luftzug traf mich mit einer Art Knall, Staub flog mir in die Augen, auf der Straße herumliegende Zeitungen und Papierschnipsel wirbelten auf. Das war die vierköpfige Spitzengruppe gewesen. Die Fahrer waren

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