Kleine Portionen
Hofes macht gerade Turnübungen. Der schwarzen Abendhimmel gießt Regen über die Stadt.
Der Gang riecht nach Zwiebeln und Rauch. Die Außenfenster sind riesig und hoch und sehen alt aus. Alles hat einen gewissen italienischen Touch. Es gibt acht Wohnungstüren aus dunklem Holz. Sieben von ihnen haben eine Glasscheibe mit Metallstäben davor. Sieben von ihnen haben ein großes Fenster, ebenfalls mit Metallstäben. Normalerweise befindet sich die Küche hinter diesen Fenstern. Beim Kochen kann man sie öffnen und Dampf und Gerüche auf den Gang hinauslassen.
Der Nachbar meiner Schwester hat ein paar Pflanzen an die Metallstäbe seiner Tür und seines Fensters gehängt. Efeu und Farn. Dunkelgrüne und hellgrüne Flecken. Neben seinem Fenster befindet sich die typische Wiener »Bassena«, ein Waschbecken aus Gusseisen, wo die Hausbewohner Wasser holen konnten, bevor fließendes Wasser in den Wohnungen installiert wurde. Die Hausfrauen trafen sich hier nicht nur, um Wasser zu holen, sondern vor allem, um zu tratschen. Es gibt zwei traditionelle Ausdrücke, die eng mit jener Epoche zusammenhängen: »Bassenatratsch« bezeichnet all das Gerede, welches an diesem wichtigen Treffpunkt seinen Ausgang nahm und unzählige »Bassenaprozesse« wegen Verleumdung zur Folge hatte. Diese Prozesse zu verfolgen war ein beliebter Zeitvertreib im 19. Jahrhundert.
Wir hören das Wasser in einer der Wohnungen laufen. In einer anderen sieht sich der Nachbar gerade die Nachrichten im Fernsehen an. Jemand kocht Nudeln, der Zwiebelgeruch verwandelt sich nach und nach in den Duft einer Sauce Bolognese. Noch jemand anders streitet sich am Handy, wie die langen Pausen zwischen den deftigen Antworten erahnen lassen. Von draußen kommt das Geschrei der kroatischen Familie herein, die auf der anderen Seite des Innenhofs wohnt; es vermischt sich mit dem Klang türkischer Popmusik.
Gespräch in der U-Bahn
Seb und meine Schwester sitzen mir gegenüber, plaudern und lachen. Ich beobachte die vorbeiziehenden, schmutzigen Gebäude am Gürtel. Wir sind in der U6, einer Linie, die größtenteils oberirdisch verläuft. Ich zähle die Stationen, grundlos zufrieden. Spittelau. Nußdorfer Straße. Währinger Straße.
Ein altes Ehepaar sitzt hinter mir. Ich höre sie mit einem dritten Mann reden, offenbar einem Unbekannten, den sie gerade erst kennengelernt haben. Die Frau redet am meisten. »Mein Günther, sehn’S«, meint sie, »der war ja erst siebzehn, als er um mich geworben hat. Er hat da immer diese kleinen Kieselsteine gegen mein Fenster g’worfen. Ich hab die Stiegen runterschleichen müssen, wenn ich ihn sehen wollt’. Dann hat er mir einen ersten Kuss g’stohlen, hab’ ich ihm g’sagt, er soll mit meinem Vater reden. Ein Jahr später hamma g’heiratet. Das muss im 46er Jahr g’wesen sein. Oder war’s im 47er Jahr?«
Michelbeuern. Alser Straße.
Die Frau plappert freudig über die alten Zeiten, über ihre Kinder, über ihre Enkel. Ihr Mann kann bloß nicken und ihrer Rede von Zeit zu Zeit zustimmen: »So war’s!« oder »Genau!« Der Unbekannte redet nicht viel, ihm kommt die Rolle des Zuhörers zu.
Josefstädter Straße. Das alte Ehepaar steht auf und geht. Die Frau sagt einen letzten und denkwürdigen Satz: »Dank’ Ihnen recht herzlich, mein lieber Herr. Das war ein echter Gewinn, mit Ihnen zu plaudern.«
Ein echter Gewinn. Unwillkürlich muss ich lächeln, während ein kecker Sonnenstrahl die Stadt kitzelt.
Ein altes Wiener Ehepaar
Wir sitzen in einem kleinen, altmodischen Café in der Nähe der Mariahilfer Straße. Das Café ist ein bisschen schäbig, die Atmosphäre gedämpft und ruhig. Ich beobachte das alte Ehepaar am Nebentisch.
Der Mann muss um die siebzig sein. Sein dünnes, graues Haar sieht fettig und unordentlich aus. Sein faltiges, reizloses Gesicht wirkt säuerlich und verrät ein Leben, das aus Schimpfen und Jammern und Meckern bestanden haben muss. Die zwei tiefen, vertikalen Falten zwischen den Augenbrauen weisen auf einen verklemmten, unzufriedenen Charakter hin. Seine schmalen Lippen sind nach unten gezogen. Der Mann trägt ein billiges, schlampiges Hemd und einen braunen Pullover. Seine Falkennase wischt beinahe über das Schmierblatt, das er liest; sie zittert und bebt, als würde er die populistischen Nachrichten aus der Gosse beschnüffeln. Auf dem kleinen Tisch vor ihm eine Tasse Kaffee, die er noch nicht angerührt hat, und ein halbleeres Glas Rum.
Ihm gegenüber sitzt seine sechzigjährige
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