Kleine Portionen
nicht mehr zuhaus, denkt der alte Mann, mit den ganzen Amerikanern und Italienern und, Gott steh uns bei!, sogar den Russen! Was für ein Segen, dieses Gewitter! Er geht langsam zur Stiege, die zum Rathaus hinunterführt. Für den Empfang ist er zu früh dran, aber besser zu früh als zu spät, das hat ihm seine verstorbene Mutter beigebracht. Während er vorsichtig die Treppe hinunterklettert, einen schmerzenden Schritt vor den andern setzt, überholt ihn eine Frau in den Enddreißigern mit einem gehetzten Blick in den Augen.
Diese Frau läuft die Treppe hinunter. Sie trägt ein leichtes Sommerkleid und zittert, weil der Wind plötzlich kalt geworden ist. Man weiß schon gar nicht mehr, was man bei diesem Wetter anziehen soll, denkt sie mürrisch, an einem Tag ist es brennheiß, am nächsten Tag braucht man schon fast eine Jacke! Sie erreicht die breite Straße unten und geht so schnell, wie es ihre Stöckelschuhe erlauben, weiter. Ihr Geliebter wartet auf sie. Endlich hat er Zeit, drei Tage, drei kostbare Tage kann er ihr widmen, bevor er nach Deauville fährt. Die junge Frau denkt lieber nicht an die nächsten Wochen, wenn er fort ist, wenn sie ganz allein sein wird; sicherlich wird sie sich jede Nacht in den Schlaf weinen, sicherlich wird sie unter Tags ihr Schicksal verfluchen. Sie bemerkt den kleinen weißen Touristenzug gar nicht, der den Montmartre hinunterrollt.
Der Fahrer des Zuges ist wütend. Der 14. Juli sollte einer seiner besten Tage sein! Aber wegen dieses verdammten Gewitters sind keine Touristen da, und ohne Touristen kein Geschäft! Noch dazu ist der kleine Zug für so schlechtes Wetter überhaupt nicht geeignet, so dass er ihn in die Remise an der Porte de la Chapelle zurückbringen muss. Der Zug-Fahrer hält an einer roten Ampel, flucht über das Wetter. Er denkt an seine drei Kinder und seine Frau, und er sagt sich, der Regen muss bald aufhören, sonst werde ich die neuen Schuhe für den Kleinsten nie kaufen können. Die Ampel schaltet auf grün, der Zug biegt links ab und rollt vorsichtig die Rue de la Chapelle entlang. Neben der bunkerähnlichen, dunkelgrauen Kapelle öffnet sich eine Tür. Der Zug-Fahrer schaut kurz hin, bevor er sich wieder auf den Verkehr konzentriert. Er sieht nicht, wie ein junger Mann mit verschlafenen Augen aus dem Gebäude kommt, noch sieht er den weißen Hund, der ihm vorausgeht.
Der junge Mann blickt zum dunklen Himmel hoch und seufzt. Na toll, denkt er, mein besonderer Tag, und was haben wir? Regen! Dann zieht er an der Leine, weil der weiße Hund begonnen hat, eine Pfütze zu beschnüffeln. Gemeinsam gehen sie zur Hausecke vor. Der Regen strömt weiter auf die zwei herab, strömt auf den Häuserblock, strömt auf die ruhige Stadt Paris herab und spritzt über den Geburtstag des jungen Mannes …
Huhn mit Oliven
Das Abendessen verlief leidlich gut, abgesehen davon, dass Marie-Joëlle ein wenig beleidigt war, als ich erklärte, dass ich keine Oliven mochte. Vielleicht, weil sie Huhn mit Oliven zubereitet hatte, und das bestand nun mal aus Huhn und, was sonst, Oliven.
Das war aber gar kein Problem. Ich nahm einfach alle Oliven und warf sie auf Vanessas Teller. Da ich viele Oliven abbekommen hatte, war das so ziemlich alles, was ich während der ersten Hälfte der Mahlzeit tat, während die anderen Gästen versuchten, meine schlechten Manieren zu übergehen. Zumindest beschäftigte mich das Aussortieren meines Essens, ich konnte also nichts Unpassendes von mir geben.
Natürlich war Marie-Joëlle besorgt, dass ich womöglich hungrig nach Hause gehen könnte. »Darf ich dir etwas anderes anbieten?«, fragte sie andauernd.
Ich beschwichtigte sie sanft: »Mach dir mal keine Sorgen. Ich werde mehr von deinem Käse nehmen, das ist alles.« Eine typische französische Mahlzeit beinhaltet immer Käse, der in der Regel nach dem Salat und vor Kaffee und Kuchen serviert wird. Als Käseliebhaber zuckte ich also angesichts des Huhns mit Oliven bloß mit den Schultern und gebot mir, geduldig zu sein.
Ich hatte nicht erwartet, dass Marie-Joëlle eine gute Köchin sei. Sie sah nicht so aus, als ob sie gerne kochte. Ich hatte Recht gehabt. Ihr Huhn mit Oliven, eine eher unkomplizierte Angelegenheit, war geschmacklos, die Sauce zu wässrig, und es hatte viel zu viele Oliven. Selbst für jemanden, der Oliven nicht so sehr verabscheute wie ich.
Als sie aber den Käseteller auf den Tisch stellte, blickte ich sie überrascht an. Ein Gutpunkt für Marie-Joëlle: der Camembert
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