Kleine Portionen
Frau. Sie scheint genauso unzufrieden mit ihrer Existenz wie ihr Gemahl. Ihr Gesicht ist aschfahl und leer. Immer wenn sie aufblickt, starrt sie ihre Umgebung mit Verachtung an. Die tiefste Verachtung gilt ihrem Mann, sie scheint ihn jedes Mal, wenn sie versehentlich zu ihm hinblickt, regelrecht zu verhöhnen. Ihr Haar ist blond gefärbt und verwaschen; man sieht die grauen Wurzeln. Sie hat es so oft gefärbt, dass es strohtrocken wirkt und merkwürdig vom Kopf wegsteht. Ihre Hände sind faltig, sie dürfte sie nicht sehr oft waschen. Sie liest eine Zeitschrift über gekrönte Häupter und schlürft einen Kaffee.
Ich beobachte die beiden nun schon seit einer halben Stunde. Sie haben noch kein einziges Wort gewechselt, beäugen einander von Zeit zu Zeit mit purem Hass in den Augen.
Plötzlich faltet der alte Mann das Schmierblatt zusammen und knallt es auf den Tisch. Mit einer rostigen, aber überraschend lauten Stimme und ohne seine Frau anzusehen bemerkt er: »I’ geh’ scheißen …«
Spricht’s, steht auf und schlurft Richtung Klo …
Am Donaukanal
Wir sind heute Morgen mit Raph zum Brunch verabredet. Es ist Samstag. Wir haben vereinbart, uns am Schwedenplatz zu treffen.
Als wir aus der U-Bahn hasten, diskutiert Raph gerade mit einer jungen Frau. Aber je näher wir kommen, desto deutlicher wird, dass die junge Frau eine Umfrage macht und Raph bloß ihre Fragen beantwortet. Ja, richtig, ich habe bereits mehrmals Studenten mit katalogdicken Umfragen bemerkt. Sie scheinen bereit, sich auf jeden unvorbereiteten Passanten zu stürzen.
Wir begrüßen Raph, und klarer Weise bittet mich ein zweites Mädchen, ob ich auch ein paar Fragen beantworten könnte. Ich hätte abgelehnt, aber wir müssen ohnehin warten, bis Raph fertig ist, also stimme ich widerwillig zu. Es handelt sich um eine Umfrage über österreichische Biermarken. Das Mädchen zeigt mir verschiedene Anzeigen. Ein kniffliger Test – ich erkenne keine einzige Flasche, weil die Etiketten verdeckt sind. Überraschenderweise weiß Seb die Hälfte der Antworten, die ich dann übersetze. Schließlich kommen wir zum letzten Teil – Assoziationen mit der Biermarke, die die Umfrage in Auftrag gegeben hat. Ich trinke gern ab und zu ein Glas Bier, was aber nicht bedeutet, dass ich die Marke oder irgendeine andere mit »Intelligenz«, »Schönheit« oder »kultiviert« verbinde. Okay, ich akzeptiere »Abenteuer« und »Qualität« – ich will ja kein kompletter Umfragespielverderber sein.
Sobald wir fertig sind und Seb einen kleinen Schlüsselanhänger erhalten hat – einen Bieröffner in Form einer Bierflasche –, führt Raph uns zu einer kürzlich eröffneten Bar mit Blick auf den Donaukanal. Die Wolken öffnen sich, der Sommerhimmel zeigt sich stellenweise, eine mächtig helle Sonne beginnt, die Stadt zu überfluten. Die Bar mit ihrem Parkettboden, den Liegestühlen und kleinen Tischen ähnelt dem Deck eines Bootes. Wir ergattern einen leeren Tisch und genießen zum ersten Mal, seit wir nach Österreich gekommen sind, sommerliche Temperaturen.
Raph hat sich seit dem letzten Mal überhaupt nicht verändert. Als erstes bestellt er eine Flasche eiskalten Prosecco. Da er schon gefrühstückt hat, nimmt er nur ein Radieschen-Brot. Seb wählt das traditionelle Frühstück, das aus Kaffee, Brot, Kipferln, Butter, Honig, Marmelade und Haselnuss-Creme besteht. Ich bestelle das Sportler-Frühstück – ein private joke – mit Gemüse-Sticks, Salat, Rührei und Vollkornbrot.
Auf den Gewässern des Kanals tuckert ein Boot Richtung Bratislava. Die Touristen an Bord fotografieren wie wild und winken uns zu. Auf der anderen Seite des Kanals ist ein junger Mann mit blonden Dreadlocks und einem knusprigen, nackten Oberkörper dabei, Liegestühle über den künstlichen Sandstrand zu verteilen. Seb schaut verträumt in seine Richtung. Ein Paar mit einem riesigen, schwarzen Hund setzt sich an den Nebentisch. Der Hund hebt den Kopf und blickt mich mit bettelnden Augen an; er wedelt mit dem Schwanz.
Strahlendes Wetter und vom Prosecco hervorgerufene Schläfrigkeit – ich würde auch mit dem Schwanz wedeln, wenn ich es könnte.
Aufgelesen
Als dieser Schwarze mich auflas, tat er es ganz wörtlich. Es war ein sonniger Samstag im Herbst, und mir war ebenfalls sonnig zumute, als ich ziellos durch den Marais schlenderte und die exotischen Schönheiten in den Straßen begutachtete. Der Marais an einem sonnigen Samstag war immer voll von männlichen Versuchungen.
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