Kleine Schiffe
sehen. Auch das wird mir Andreas später erklären. Dass man die geschundenen und verletzten Körper der Unfallopfer so verbindet, dass kein Blut durch die Laken dringt. Dass man den Angehörigen einen möglichst sauberen Eindruck vermittelt, um die Schwere des Augenblicks etwas zu mildern. Davon weiß ich nichts, als ich dort im Raum der Stille stehe. Bilder durchzucken mich: Lilli, die sich während der Schwangerschaftsgymnastik wie eine kleine Katze auf der Gymnastikmatte zusammenrollt und einschläft. Lilli, die mir einen Apfel schenkt. Lilli am Tag unserer ersten Begegnung.
Meine Finger zittern so stark, dass ich sie in die Manteltaschen stecke. Meine Hand umkrampft wieder Lillis Lippenstift.
In mir keimt die irrwitzige Hoffnung, einem makabren Halloween-Scherz aufzusitzen. Lilli kennt so viele Menschen. Vielleicht auch einen Polizisten, einen Krankenpfleger, einen Arzt? Eine trügerische Ruhe breitet sich in meinen verwirrten Gedanken aus. Ja, so bekommt die Sache einen Sinn. Das alles ist ein Scherz. Lilli hat sich das ausgedacht, oder? Gleich wird sie mit ihrem Lilli-Lachen die weißen Laken zurückschlagen und sich über ihren Witz und mein erschrockenes, dummes Gesicht amüsieren.
Ich trete ans Bett. »Lilli! Komm, steh auf!«
Aber Lilli bleibt liegen. Ihr Gesicht ist ernst. Viel zu ernst für Lilli. So ein Gesicht macht sie nur, wenn David sie wieder einmal enttäuscht hat. Ihre Augen werden dann stumpf, und ich habe das Gefühl in ein leeres Haus zu blicken. Aber jetzt sind ihre Augen geschlossen. Ich habe mich getäuscht. Sie sieht nicht aus, als ob sie schläft. Sie sieht fremd aus.
Ich berühre ihre kalte Wange, wünsche mir immer noch, das Unabänderliche wegwischen zu können.
Lillis Gesicht macht meine Hoffnungen zunichte. Ich kenne dieses Gesicht. Es ist das Gesicht meiner Mutter. Es ist das Gesicht des Todes. Lilli liegt da wie meine Mutter. Still, unnahbar. Unerreichbar.
Eine Schwester kommt herein, tritt sofort den Rückzug an, als sie uns sieht, und berührt dabei versehentlich den Lichtschalter. Für einige Sekunden wird es dunkel im Zimmer.
Bevor ich mich zusammennehmen kann, fahre ich herum und keife: »Machen Sie das nie wieder, hören Sie?«
Die Schwester entschuldigt sich. Ich bin fast so erschrocken wie sie, aber die Tränen, die aus mir herausbrechen, schwemmen Rücksicht und Höflichkeit fort. »Lilli hat Angst vor dem Dunkeln«, stoße ich zwischen zwei atemlosen Schluchzern hervor. »Versprechen Sie mir, dass Sie das Licht anlassen, solange sie hier ist.«
Dr.Czybulka verspricht es.
Andreas erweist sich als der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Als ich ihn später vom Krankenhaus aus anrufe, bietet er sofort an, sich um die Formalitäten in der Klinik zu kümmern. »Ich kenne die Kollegen dort noch. Komm erst mal zurück, dann besprechen wir alles Weitere.«
Es ist mittlerweile Morgen, ein grauer, trüber Morgen, der so dunkel wirkt, als ob niemals wieder die Sonne scheinen wird.
Zu Hause erwartet mich Andreas in der Küche mit einem Kaffee. Ich bin seit mehr als vierundzwanzig Stunden wach, todmüde und dennoch wie aufgezogen. Papa und die Unvermeidlichen sind mit den Kindern im Park. »Den Kleinen geht es gut – die Herren haben einen Schock«, berichtet Andreas, der die Nacht mit Lisa-Marie und Amélie gut überstanden hat. »Amélie ist einmal aufgewacht und hat geweint, hat sich aber schnell beruhigen lassen. Vor einer Stunde war eine junge Frau vom Kinder-und Jugendnotdienst da und hat sich davon überzeugt, dass es Lisa-Marie gutgeht. Sie wird auch das Jugendamt informieren.«
»Was wird denn nur aus Lisa-Marie?«, frage ich verzweifelt. »Muss ich nicht irgendwen benachrichtigen?«
Andreas beruhigt mich. »Ihr geht es doch gut. Und alles Weitere findet sich. Lass uns jetzt erst einmal über das Nächstliegende sprechen. Wo ist eigentlich dein … Simon?« Kläglich flüstere ich: »Ich kann ihn nicht erreichen.«
Andreas zieht fragend eine Augenbraue hoch, erspart sich aber einen Kommentar. Mit letzter Kraft schiebe ich den schmerzhaften Gedanken an Simon weg. »Was ist das Nächstliegende?«
Andreas zählt auf: »Lillis Eltern finden, die Beerdigung organisieren.« Er schiebt mir den Kaffeebecher, den ich bisher nicht angerührt habe, mit Nachdruck zu. »Weißt du mittlerweile, wie der Unfall passiert ist?«
»Nein, ich weiß nur, dass David mit dem Auto seines Vaters in den U-Bahn-Eingang gefahren ist. Vielleicht war er betrunken. Oder bekifft.
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