Kleine Schiffe
Sonnenaufgangslächeln kann nicht tot sein. Lilli, meine süße Freundin mit dem Herzen aus Gold und der frechen Schnauze. Lilli, Lisa-Maries fröhliche Mutter. Bei dem Gedanken an Lisa-Marie krampft sich mein Körper zusammen, als hätte ich einen Schlag in den Bauch bekommen.
Ich muss nach Hause. Ich muss zu Simon. Ich muss mich um Amélie kümmern. Ich muss Lilli fragen, was sie sich dabei gedacht hat. Sie wollte doch tanzen gehen. Ich bin taub, stumpf. Ich fühle nichts. Nur eine diffuse Ahnung. Auf mich wartet ein Schmerz, der ungleich größer sein wird als alles, was ich in diesem Moment fühle. Es ist der Schmerz des Unfassbaren. Er wird mich treffen, wenn Lillis Tod zur Gewissheit wird.
Dr.Czybulka legt seine Hand auf meinen Arm. Die Wärme der Berührung – das ist zu viel. Ich bekomme keine Luft mehr, das Zimmer gleitet unter mir weg. Ich sinke dem Arzt in die Arme, er hilft mir, mich wieder zu setzen, dabei fällt mir der Lippenstift aus der Hand, rollt über den Boden und verschwindet unter einem Regal. Schlagartig bin ich hellwach. Das Allerwichtigste ist jetzt, den Lippenstift wiederzubekommen. Ich mache mich los, rutsche auf Knien zum Regal und suche hektisch. Lillis Lieblingslippenstift! Wo ist er? Das Weinen kommt völlig unvermittelt, es packt mich wie eine große Hand, drückt mir den Körper zusammen, presst mir Tränen, viele Tränen aus den Augen, dem Mund, dem Hals.
Dr.Czybulka kniet sich neben mich. »Hier, Frau Funk.« Er hält mir Lillis Lippenstift hin.
Mit großer Anstrengung gelingt es mir, meinen Oberkörper aufzurichten und durch den Tränenschleier den Lippenstift zu erkennen. Ich greife zu. »Das ist ihr Lieblingslippenstift. Den will sie doch wiederhaben!« Mehr kann ich nicht sagen, Schluchzen schüttelt mich. Dr.Czybulka legt vorsichtig den Arm um mich, und diesmal kann ich seinen Trost annehmen. Er sitzt neben mir und hält mich.
Die alte Wunde bricht auf. Ich bin wieder die zwölfjährige Franziska, deren Mutter gestorben ist. Ich bin verlassen. Der Schmerz überwältigt mich. Wieder allein. Allein. Ich weiß nicht, wie lange wir so sitzen, bevor mein krampfartiges Schluchzen nachlässt.
Dr.Czybulka hilft mir auf. Er geleitet mich zu dem Stuhl, auf dem ich vorhin gewartet habe. Auf dem Tisch steht eine Wasserflasche, einige Gläser. Der Arzt gießt mir ein Glas ein. »Trinken Sie etwas.«
Ich folge seiner Aufforderung, fühle mich ausgehöhlt, zu Tode erschöpft. Als ich sicher bin, dass ich meine Stimme unter Kontrolle habe, frage ich: »Was genau ist passiert?«
»Es war ein furchtbarer Unfall. Der Fahrer des Autos war sofort tot.«
Die Äußerung des Taxifahrers fällt mir ein. »Ist das Auto in einen U-Bahn-Eingang gefahren?«
Dr.Czybulka nickt. »Ja, Ihre Freundin saß auf dem Beifahrersitz. Ein alter Mercedes. Ohne Kopfstützen und nur mit alten Gurten ausgerüstet. Kein Airbag. Der Fahrer …« Er verstummt.
»David Möller?«
»Sie kennen ihn?«
Als er den alten Mercedes erwähnte, wusste ich sofort, dass es das Auto von Davids Vater sein muss. Eines der vielen Autos von Davids Vater. David war immer scharf darauf, den Mercedes zu fahren, bekam aber nur selten die Erlaubnis dazu.
»David ist Lillis Freund. Und der Vater von Lillis Tochter.«
Der Arzt schweigt. Angst und Kummer kühlen mich aus, aber ich frage dennoch: »Wo ist Lilli jetzt?«
»Wir nennen das Zimmer ›Raum der Stille‹. Dort können Sie sich von ihr verabschieden, wenn Sie mögen.« Er sieht mich aufmerksam an. »Fühlen Sie sich dazu in der Lage? Oder wollen Sie auf jemanden warten?«
Obwohl Schüttelfrost meinen Körper erbeben lässt, weiß ich, dass ich jetzt stark sein muss. Denn sonst werde ich ewig darauf warten, dass Lilli nach Hause kommt.
Dr.Czybulka geleitet mich durch den immer noch vollen Korridor, vorbei an Menschen, die mir neugierige und mitleidige Blicke zuwerfen. Bin das wirklich ich, die diesen scheinbar endlosen Gang entlanggeht? Oder ist das die kleine Franziska, die an der Hand einer Krankenschwester unterwegs zu ihrer toten Mutter ist? Was will der Tod mir eigentlich beweisen? Dass er stärker ist als ich?
Dr.Czybulka öffnet eine Tür.
Die ganze Zeit, in der ich gehofft und geweint habe, hat Lilli hier auf mich gewartet – nur wenige Meter durch ein paar dünne Zimmerwände von mir getrennt. Sie liegt in einem Krankenhausbett unter der Bettdecke. Nur ihr Kopf ist sichtbar. Sie sieht gar nicht verletzt aus, nur eine kleine Platzwunde ist auf der Stirn zu
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