Kleine Schiffe
hätte Lilli mir doch gesagt, oder?«
»Vielleicht. Aber es ist besser, als hier nur herumzusitzen.« Er steht auf und reckt sich. »Bewegung tut uns gut.«
Tina und Papa bleiben zu Hause, um sich um die Kinder zu kümmern.
Als Andreas und ich über den Hof gehen, blickt er zurück auf das kleine weiße Haus. »Ein richtiges Familienhaus ist das«, sagt er leise.
Ich schaue ihn von der Seite an. Auch er hat feuchte Augen, obwohl er Lilli doch kaum kannte. Wir gehen schweigend weiter. Ich denke an Papa, Tina und die Unvermeidlichen, die in meinem Haus geblieben sind. Weil keiner von ihnen weggehen mochte in seine eigene Einsamkeit. Heute wollen alle zusammen sein. Sie werden dort sitzen, und heimlich wird jeder auf Schritte lauschen, die von draußen kommen. Auf Lillis Schritte.
Die Adresse in der Neustädter Straße entpuppt sich als die unter dem Namen »Pik-Ass« bekannte Übernachtungsstätte für obdachlose Männer. Ratlos stehen wir vor dem roten Klinkergebäude, das wir nur aus der Zeitung kennen.
»Urbschat? Ja, da hatten wir mal einen, der ist aber schon lange weiter«, sagt einer der dort beschäftigen Sozialarbeiter. »Wollte nach Süddeutschland, wo er wohl ein Mädchen hatte.«
»Ein Mädchen? Wie alt war er denn?«
Der Sozialarbeiter legt die Stirn in nachdenkliche Falten. »So Ende zwanzig.«
»Das kann er nicht sein. Lillis Vater müsste viel älter sein. Haben Sie denn keine Unterlagen?«
»Doch, natürlich. Aber die tauchen bei uns ja oft nicht unter ihrem richtigen Namen auf. Können Sie ihn nicht beschreiben?«
Andreas sieht mich fragend an.
»Lilli hat immer gesagt, er sieht aus wie Elvis.«
Der Sozialarbeiter wiegt den Kopf. »Das tun hier viele.«
Enttäuscht kehren wir zu Andreas’ Wagen zurück. Es wird schon dunkel.
Im Auto sitzen wir erst schweigend nebeneinander. Meine Stimme zittert, als ich endlich sage: »Arme Lilli! Da ist sie nach Hamburg losgezogen, um ihren Vater zu suchen. Und gefunden hat sie einen Mann, der vielleicht ab und an mal im ›Pik-Ass‹ nächtigt, aber ansonsten auf Trebe ist.«
Andreas legt kurz seine Hand auf meine. »Aber ein Zuhause hat sie trotzdem gefunden.«
In der Wiesenstraße bauen Rudi, Helmut und die Kinder im Spielzimmer mit Duplosteinen. Sie sind so ins Spiel vertieft, dass sie unsere Rückkehr gar nicht bemerken.
Mir ist das momentan recht. Sie sind noch so klein – die bedrückte Stimmung und die Lücke, die Lilli hinterlässt, sind schlimm genug.
Außerdem sitzt mit Papa und Tina am Küchentisch – Simon! Er ist kalkweiß. Mein Herz scheint zu zerreißen, als er aufspringt und sich in meine Arme wirft, als hätte es nie ein böses Wort zwischen uns gegeben.
Simon weint, wie ich noch nie einen Menschen habe weinen hören. Sein Körper bebt, er klammert sich an mich.
Ich denke an die Kinder und werfe Andreas einen hilfesuchenden Blick zu. Er macht eine kleine Bewegung mit dem Kopf nach oben.
Also führe ich Simon hinauf in mein Zimmer. Dort legen wir uns in der Dunkelheit aufs Bett. Wir halten uns umschlungen und weinen gemeinsam um Lilli, das Mädchen mit dem Pfirsich-Lächeln.
16. Kapitel
Ich blickte auf den
Stillen, dunklen Hafen
Überlegte, wie es wäre
Alles hinter mir zu lassen.
Bernd Begemann: »Unten am Hafen«
D ie nächsten Tage erlebe ich wie einen endlosen bösen Traum. Am Morgen warte ich darauf, dass Lilli von unten ruft: »Schatz! Kaffee ist fertig!« Doch kein Morgen beginnt so. Ich wache auf, fühle mich einen kostbaren Augenblick lang sicher und wohl – bis mir alles wieder einfällt. Sekunden nach dem Erwachen drückt mich der unbarmherzige Schlag wieder weinend in die Kissen: Lilli ist tot.
Den anderen geht es ähnlich schlecht. Papa und die Unvermeidlichen schleichen graugesichtig, unrasiert und betrübt umher. In der ersten Woche erscheinen sie täglich mit frischen Brötchen, auf die keiner Appetit hat. Am Abend verabschieden sie sich kurz vor den 20-Uhr-Nachrichten und vergewissern sich, dass ich hinter ihnen abschließe. Tina kommt nach der Arbeit zu uns. Als Erstes hat sie Lillis Toilettenartikel aus dem Badezimmer geräumt. Ich beschwerte mich: »Jetzt ist Lilli endgültig tot!«
Tina setzte ihr strengstes Physiotherapeutinnengesicht auf. »Je eher, desto besser!«
Es tut weh, aber sie hat recht. Tränen beim Anblick von Lillis Zahnbürste machen sie auch nicht wieder lebendig.
Tina überrascht mich, denn sie übernimmt mit großer Selbstverständlichkeit die Betreuung von Lisa-Marie. Das
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