Kleine Schiffe
Wahrscheinlich beides.« Die Tränen, die mir auf den Wangen brennen, sind Tränen des Zorns. »Dieser Idiot! Er hat Lilli umgebracht.«
Andreas lässt mich glücklicherweise in Ruhe. Er weiß, dass ich nichts so sehr hasse wie Mitleid. Selbst wenn ich mir nur den Finger klemme, kann ich es schlecht ertragen, getröstet zu werden. Ich möchte schwere Zeiten lieber allein durchstehen. Vielleicht weil bei Mamas Tod diese Unabhängigkeit das Einzige war, das mir blieb. Ich habe darin eine gewisse Übung.
Doch es tut gut, in dieser Situation jemanden in der Nähe zu wissen, der mich kennt. Andreas lässt mich weinen. Jetzt und immer wieder. Ich weine, als Papa und die Unvermeidlichen mit den Kindern zurückkommen. Ich weine, als ich die Kinder auf den Arm nehme – und löse bei ihnen sofort ein verunsichertes Heulen aus. Ich weine mit Tina, die – von Papa alarmiert – mittags vor der Tür steht.
Sie fällt mir um den Hals – ich bin diejenige, die sie hält und tröstet, als sie wimmert: »Warum nur?«
Später sitzt sie vor dem Kamin, den Andreas bestückt hat. Sie starrt in die Flammen und sagt leise: »Ich habe ihr, glaube ich, niemals gezeigt, wie viel sie mir bedeutet hat.« Sie wischt sich mit einem Taschentuch über die verquollenen Augen. Als die Kinder ihren Mittagsschlaf halten, hole ich Lillis Tasche, die man mir im Krankenhaus gegeben hat. Sie ist verschmutzt. Ob die dunklen Flecken Lillis oder Davids Blut sind, will ich gar nicht wissen. Der Taschenkalender, in dem die Polizei meine Telefonnummer gefunden hat, steckt in der Vordertasche.
Unter »E« hat Lilli in ihrer verschnörkelten Schrift eingetragen: Eltern . Darunter stehen einen Berliner Telefonnummer (Ma) und eine Hamburger Adresse (Dad). Nach längerem Zögern rufe ich die Berliner Nummer an.
»Urbschat!«, sagt Lillis Stimme.
» Lilli! Was machst du denn in Berlin?« Mein vor Traurigkeit verwirrtes Hirn wird von einer Woge der Erleichterung und Empörung überrollt.
»Wieso Lilli? Lilli wohnt hier nicht mehr. Hier ist Lillis Mutter!«, informiert mich diese Stimme, die mit ihrem leicht rauhen Timbre so sehr an Lilli erinnert, dass es mir den Atem verschlägt.
Ich weiß nicht, wie, aber es gelingt mir, der Frau von Lillis Tod zu erzählen. Auch sie ist in Tränen aufgelöst und sagt immer wieder. »Ick wollte ihr doch morgen schreiben, wegen dem Kind!«
Ich muss versprechen, ihr den Beerdigungstermin mitzuteilen. »Vielleicht schaff ick det ja. Jehört sich auch. Und der Bus ist nich so teuer.« Auf keinen Fall will sie Lilli in Berlin bei sich beerdigen. »Hatte kein schönes Leben, das Mädchen. Und jetzt so einen Tod. Eine schöne Beerdigung kann ich mir auch nicht leisten.«
»Und was ist mit Lisa-Marie?«
Die Antwort kommt schnell. »Ein Kleinkind kann ick hier nich jebrauchen. Da muss sich der Staat drum kümmern.« Dann legt sie ohne Gruß auf.
»Wie teuer ist eine Beerdigung?«, frage ich in die Runde.
»Teuer«, antwortet Tina.
Unwillkürlich balle ich die Fäuste. »Irgendwie kriege ich das schon hin.« Papa, der seit Stunden im Rollkragen verschwunden ist, tauscht einen Blick mit den Unvermeidlichen und sagt: »Nee, das machen wir. Lilli soll die schönste Beerdigung bekommen, die es gibt.« Als er Lillis Namen ausspricht, verzieht sich sein Gesicht mit einem Mal. Seine Augen werden rot, und er scheint sich für seine Tränen nicht zu schämen. Er nimmt sogar mit einem Anflug von dankbarem Lächeln das Papiertuch an, das ihm Andreas von der Küchenrolle reißt.
Auch die Unvermeidlichen schlucken, sehen vor sich hin. Rudi sagt leise: »War ’n großartiges Mädchen, die Lilli.«
Helmut nickt. »Das kriegen wir schon hin.«
Papa steht auf. Sein Gesicht ist klein – er wirkt sehr alt. Ich sehe ihm nach, wie er nach draußen geht und dann im Garten mit kleinen Schritten immer wieder die Strecke zwischen Haus und Gartentor abmisst. Ich weiß, dass ich ihn jetzt in Ruhe lassen muss.
Andreas nimmt Lillis Taschenkalender wieder in die Hand. »Neustädter Straße«, liest er den zweiten Eintrag unter »Eltern« vor. »Wo ist das?«
Rudi überrascht uns mit einer Antwort. »Innenstadt, zwischen Kaiser-Wilhelm-Straße und Bäckerbreitergang.«
Helmut kommentiert: »Hat mal als Taxifahrer gejobbt, der Rudi!«
»Ja, als die mich damals gefeuert haben. Betriebsrat gab’s nämlich nicht.«
Andreas unterbricht ihn. »Lass uns da hinfahren, Franzi. Da finden wir Lillis Vater vielleicht.«
»Kann ich mir nicht vorstellen. Das
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