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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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Gruppen, jemand ruft etwas Unverständliches, ein Blitzlicht flammt auf. Ich umklammere meinen Zettel wie den Schlüssel einer Fee, den ich sicher durch die Drachenhöhle bringen muss, um damit die Tür zu öffnen, die mich in die Freiheit führt. Wieso ist es hier so voll? Ist immer so viel los in der Notaufnahme? Stimmengewirr erfüllt den großen Raum. Ich versuche mich zu orientieren, suche die Rezeption. Doch bevor ich mich in die Menschenschlange einreihen kann, die sich vor einer Glasscheibe gebildet hat, kommt ein Pfleger auf mich zu und fragt mich, ob er mir helfen könne. Ich halte ihm den Zettel hin. »Die Polizei hat mich angerufen. Meine Freundin Lilli hatte einen Unfall.«
    Der Pfleger wirft einen Blick auf den Zettel. »Sind Sie Frau Funk?« Als ich nicke, gleitet ein verstehendes, trauriges Lächeln über seine Züge. Er sieht sich um, macht einer Schwester ein Zeichen. »Alles klar. Ich habe sie!«
    Später wird mir Andreas erklären, dass bei einem so schweren Unfall, wie Lilli ihn hatte, in der Notaufnahme ein Krisenteam bereitsteht, das sich um die Angehörigen kümmert und sie vor der Presse schützt. So werde auch ich quasi »abgefischt«, bevor die Reporter zwischen dem Unfallopfer und mir eine Verbindung herstellen und mich mit Fragen bombardieren können.
    Der Pfleger führt mich in einen kleinen Raum, in dem nur einige Stühle und Regale stehen. Hier ist es auf einen Schlag stiller.
    »Bitte warten Sie hier, es wird sich gleich jemand um Sie kümmern!«
    Ich halte ihn am Ärmel fest. »Wie geht es Lilli? Wo ist sie? Kann ich zu ihr?«
    Der Pfleger lächelt mich tröstend an. »Frau Funk, ich kann Ihnen nichts sagen. Gleich kommt der zuständige Arzt.« Er zeigt auf einen Stuhl. »Bitte setzen Sie sich doch.«
    Also setze ich mich und warte. Mein Herz klopft gegen meine Rippen, meine Hände sind immer noch eiskalt. In meinem Kopf gibt es nur einen Gedanken, ein Gebet: »Bitte, lass sie leben.«
    Durch die Tür klingen die Geräusche gedämpft, dennoch ist Nervosität und Betriebsamkeit zu spüren. Immer wieder blicke ich auf die Uhr. Ich sehne mich nach Simon. Wo ist er nur? Lilli ist doch auch seine Freundin. Auf seinem Handy antwortet nach wie vor die Mailbox. Also versuche ich es noch einmal in der WG. Diesmal habe ich Glück. Nach dem zehnten Klingeln antwortet Simon, seine Stimme klingt belegt und verschlafen.
    Ich komme nur bis: »Simon! Wo bist du denn? Lilli …«
    Er unterbricht mich und nuschelt unfreundlich: »Sind wir etwa verheiratet? Mann, ich muss pennen! War heftig, diese Nacht.« Dann legt er auf.
    Ich starre fassungslos auf mein Handy, bin aber zu angespannt, um wütend zu werden. Verzweiflung kriecht in mir hoch wie Kälte. Wieso lässt mich Simon so allein? Warum ist er nicht bei mir? »Bitte, lass sie leben. Bitte, lass sie leben.« Wie viele Menschen wohl hier schon so gesessen haben? Verzweifelt und hoffend.
    Nach zwanzig Minuten, die mir endlos vorgekommen, geht die Tür auf. Der Pfleger kommt mit einem grauhaarigen Arzt herein. »Das ist Doktor Czybulka«, stellt er vor und zieht sich dann zurück. Ich springe auf, mit der linken Hand umklammere ich Lillis Lippenstift in der Manteltasche.
    Dr.Czybulka spricht Deutsch mit einem leicht slawischen Akzent, er sieht müde aus. Es liegt etwas in seinen Augen, das mich stutzig macht. Mein Blick bleibt an seinem hängen wie ein Schal in einer Dornenhecke. Begreifen schwappt in mir hoch – groß und dunkel und schrecklich. Werde ich aushalten, was jetzt kommt? Unversehens weiß ich mit untrüglicher Sicherheit, was der Doktor sagen wird. Und ich höre mich »Nein!« schreien, als er zu sprechen beginnt.
    In meinen Aufschrei hinein sagt Dr.Czybulka: »Es tut mir leid. Wir konnten ihr nicht mehr helfen.«
    Während er weiterspricht, schlägt über mir die schwarze Welle zusammen. Sie trifft mich mit ungeminderter Gewalt. Ich kann kaum standhalten, schwanke, aber ich bin wie gelähmt. Ich weigere mich zu verstehen, was ich gehört habe. In meinem schmerzenden Kopf herrscht vollkommene Leere. Ich versuche mich zu erinnern, aber ich komme immer nur bis zu dem Moment, als der Arzt den Raum betritt. Ich sehe seinen Mund, der unablässig Wörter formt, ich höre sie, begreife sie aber nicht. Wörter wie Milzruptur, Leberriss, Blutverlust.
    Ich schüttele den Kopf. Das kann nicht sein. Lilli tot? Wer hat sich diesen schlechten Scherz ausgedacht? Meine Lilli, meine schöne, kluge, lebenslustige Lilli mit dem pfirsichzarten

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