Kleine Schiffe
hilft mir sehr, denn ich bin schon mit Amélie im Moment völlig überfordert.
Tina bringt ein Büchlein mit einem blauen Samteinband mit. Sie nimmt alle Fotos, die Lilli mit Stecknadeln an ihre Zimmerwände gepinnt hatte, ab und klebt sie ein. »Das ist für Lisa-Marie.«
Ein Foto von Lisa-Marie und Lilli befestigt sie jedoch mit einem Magneten an der Kühlschranktür. Es zeigt die beiden in der Badewanne. Lilli lächelt darauf ihr Pfirsich-Sonnentag-Lächeln. Ihre runden nackten Schultern glänzen. Lisa-Marie sieht wie eine Miniaturausgabe ihrer Mutter aus. Beide tragen freche Rattenschwänzchen, die über ihren Ohren abstehen, und weiße Schaumflocken auf den Haaren. Ein lustiges Bild. Doch mir schnürt es die Kehle zu, wenn ich es betrachte.
Der U-Bahnhof Osterstraße liegt unter einer Kreuzung und hat vier Ausgänge. David ist in den an der südöstlichen Ecke hineingefahren, der im Heußweg schräg vor der Buchhandlung Lüders liegt. Schon wenige Stunden später haben Menschen Kerzen an der Unfallstelle aufgestellt und Blumen niedergelegt. Papa ist bleich im Gesicht, als er davon erzählt. Jemand hat ein Plakat gemalt: »Lilli und David – Wir vermissen Euch«. Die Unfallstätte sieht aus wie ein Wallfahrtsort. Der Tod von David und Lilli berührt viele, weil die beiden so jung waren und ihr Tod so sinnlos ist. Die Unvermeidlichen erzählen, dass Menschen einander vor den Blumen und Kerzen in die Arme nehmen oder schweigend verharren.
Der U-Bahn-Eingang ist geschlossen, die Treppe abgesperrt. David ist aus unbekannten Gründen von der Straße abgekommen, der Wagen ist die Treppe hinuntergerast und unten gegen die Wand geprallt. Der Mercedes hat es, zwar schwer lädiert, ausgehalten, aber Lilli und David nicht. Sie waren nicht angeschnallt.
Bei uns zu Hause tauchen schon am ersten Tag nach dem Unfall Menschen auf. Es ist, als ob sie Lilli suchen und meinen, in dem Haus, in dem Lilli lebte, Antworten auf ihre Fragen nach dem Warum zu finden. »Die Mädels« kommen, die »richtigen Mütter«, Tarek und seine Gang.
Die ersten sind die Pepovic-Kinder – sie bringen eine Platte mit scharf gewürztem Fleisch und Gemüse, das ihre Mutter zubereitet hat. Verlegen stehen sie in der Küche, sehen unsicher von mir zu Papa und fliehen bald wieder.
Einen Tag nach dem Unfall lungern einige Reporter und Fotografen im Hof vor dem Gartenzaun herum. Papa verscheucht sie mit grummeliger Entschiedenheit. Der spektakuläre tödliche Unfall macht Schlagzeilen in der Tagespresse, und zwar im Stil des typischen Boulevardaufmachers: »So jung, so wild – Liebespaar fährt in den Tod«. Oder »Tödliches Ende einer Spritztour« und »Party, Party – die Fahrt in den Tod«. Die Umstände des Unfalls sind für die Zeitungen Anlass, sich mit dem Thema Jugend und Alkohol auseinanderzusetzen. Sogar eine große Illustrierte ruft bei uns an, aber Andreas wimmelt sie erfolgreich ab. Ich frage mich, woher die Boulevard-Blätter so viele Fotos von Lilli und David haben. Es gibt Bilder, die Lilli und David am Unfallabend in einer Disco an der Reeperbahn erst beim Tanzen, dann offensichtlich im Streit zeigen. Und es gibt noch viel mehr Bilder. Simon blättert das regionale Revolverblättchen durch und kommentiert bissig: »Die haben doch Davids Facebook-Eintrag geknackt!« Die Websites, auf denen Menschen in der ganzen Welt soziale Netzwerke unterhalten, sind für die Presse natürlich eine Schatztruhe. Damit ersparen sich die Reporter, Angehörigen von Unfallopfern Fotos abzuschwatzen. »Ist das nicht verboten?«, frage ich empört. Simon zuckt die Schultern. »Wer soll sich denn darüber beschweren? Die Eltern von David? Die sind doch viel zu geschockt. Bin gespannt, ob sie Lillis Seite bei Schüler-VZ auch noch plündern.«
Durch die Internet-Einträge geraten in den nächsten Tagen auch Bilder von Lilli und Lisa-Marie in die Öffentlichkeit und in Zeitungen, die wohlmeinende Nachbarn uns mitbringen oder die Menschen, die zu Lillis Kosmos gehören, vor die Tür legen. Ich überfliege sie nur kurz. Sie gar nicht zu lesen, schaffe ich nicht. Aber sie genau zu studieren, genauso wenig. Die Unvermeidlichen sind immer zur Stelle, um den Schund taktvoll zu entsorgen. Glücklicherweise ist der Unfall nach drei Tagen kein Thema mehr für die Presse. Schließlich bringt der Tod unbekannter junger Leute dauerhaft keine hohe Auflage.
Immer wieder frage ich mich, was in jener Nacht geschehen ist, in die Lilli so unternehmungslustig
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