Kleine Schiffe
denke mir das so: Lilli und Simon sind miteinander ins Bett gegangen, weil sie wissen wollten, wie sich das anfühlt. Als ihre Neugierde verflogen war und ihr Gefühl nicht für mehr ausreichte, sind sie wieder aufgestanden und Freunde geworden. Darauf kann ich nicht eifersüchtig sein. Ich habe jetzt nur für ein Gefühl Platz in meinem Herzen: für die Trauer um Lilli.
Der Tod ändert die Sicht aufs Leben. Zum ersten Mal denke ich darüber nach, was Andreas nach Johannes’ Tod empfunden haben mag. Andreas, der sich vergrub, für mich unerreichbar war.
Ich erkenne, dass ich ihn damals nicht trösten konnte, indem ich die Trauer mit ihm teilte. »Sprich mit mir!«, habe ich gedrängt. Heute weiß ich: Trauer kann man nicht teilen, Trauer kann man nur respektieren.
War ich damals respektvoll genug? Bei Mamas Tod sind Papa und ich nicht respektvoll miteinander umgegangen. Wir waren zu verletzt und verängstigt.
Ich weiß nicht, ob man den Umgang mit dem Tod lernen kann, aber in diesen Tagen sind wir einander nahe, wir stützen uns gegenseitig. Ich wünsche mir sehr, dass Papa noch lange lebt. Er ist über siebzig. Hoffentlich kann er Amélie noch ein paar Jahre begleiten. In diesen dunklen Stunden lasse ich zum ersten Mal an mich heran, was ich bisher erfolgreich verdrängt habe: Wenn Papa stirbt, wächst Amélie ohne Großeltern auf. Andreas hat keine Eltern mehr.
Der Tod wirft ein neues Licht auf unser Leben. Er leuchtet unbarmherzig in die dunklen Ecken, die nicht aufgeräumten Winkel, in denen wir steckengeblieben sind, aufgegeben haben. Habe ich mir wirklich genügend Gedanken über die Konsequenzen gemacht, als ich mit über vierzig Jahren ein Kind bekam? Habe ich darüber nachgedacht, dass ich meinem Kind die unbedingte Liebe der Großeltern vorenthalte? Ich bin von meinem biologischen Vermögen ausgegangen – was aber, wenn diese Biologie mich im Stich lässt? Wenn ich krank werde oder einen Unfall habe? Der Tod, bis vor kurzem noch so weit entfernt, steht nun direkt neben mir.
Simon beugt sich noch weiter vor und lehnt seine Stirn an meine. »Woran denkst du? Das zwischen Lilli und mir war schon lange vorbei.«
Als ich nichts erwidere, fragt er: »Alles in Ordnung?«
Ich schüttele den Kopf. Simon steht auf, kommt um den Tisch herum, setzt sich neben mich und zieht mich an sich. Er spricht in meine Haare: »Natürlich ist nichts in Ordnung, ich weiß. Es wird nie wieder in Ordnung sein. Neuerdings klingen alle Worte so falsch.« Der Tod wirft sein Licht auch auf Simons Leben. »Ich vermisse Lilli so!«
Ich drücke mich eng an ihn. »Ich weiß.«
»Aber nicht, dass du denkst …«
»Ich weiß, dass du sie nicht als Frau, sondern als Freundin vermisst.«
Simon holt ein Papiertaschentuch aus seiner Jeanstasche. »Bleib noch ein bisschen bei mir«, höre ich mich sagen, und zum ersten Mal spüren wir wohl beide, dass unsere Geschichte irgendwann zu Ende geht. Bisher habe ich die Gedanken daran immer beiseitegeschoben. Simon sieht mich erschrocken an. »Natürlich! Was ist denn los mit dir?«
Ich streichele über sein Haar. »Seitdem Lilli … Seit Lillis Unfall halte ich alles für möglich.« Wieder kuschele ich mich eng an ihn. »Bleib einfach bei mir und hilf mir, diesen Wahnsinn zu ertragen.«
Simon nickt. Wir umarmen einander. Doch wir suchen vergeblich Trost in der Wärme des anderen. Es gibt keinen Trost.
Am Abend, als Tina und ich die Kinder oben ins Bett bringen, steht Pastor Brenner vor der Tür.
Mein Vater lässt ihn ein und ruft im Bühnenflüsterton von unten: »Franziska!«
Amélie ist endlich in meinem Bett eingeschlafen. Nebenan im Kinderzimmer ist Tina noch mit Lisa-Marie beschäftigt. Leise schleiche ich die Stufen hinunter.
Pastor Brenner kommt mir entgegen und schüttelt mir die Hand. »Mein herzliches Beileid, Frau Funk! Ich habe es leider nicht geschafft, sofort vorbeizukommen, nachdem mir ihr Vater von dem Unglück erzählt hat.«
Meine Lippen sind wund und rissig, meine Gesichtshaut trocken und rot. Das ständige Weinen hat mich ausgelaugt. Ich würde viel lieber oben bei Amélie sein. Vielleicht könnte ich einschlafen. Schlafen ist das Beste. Schlafen und vergessen.
Auf zittrigen Beinen gehe ich zum Küchentisch und lade den Pastor mit einer fahrigen Bewegung ein, Platz zu nehmen.
»Ich mach uns einen Tee«, schlägt Papa vor, der immer froh ist, wenn er sich in der Küche nützlich machen kann – dabei fühlt er sich am sichersten.
»Ich wohne im Heußweg, ich
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