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Kleine Schiffe

Kleine Schiffe

Titel: Kleine Schiffe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schuetze
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Schule als Kirche.‹ Und dann sagt Lilli: ›Da hast du vielleicht recht. Aber so einen knackigen Hintern wie Pastor Brenner hat in meiner Schulzeit kein Lehrer gehabt!‹«
    Tina, die in diesem Moment die Küche betritt, hat die letzten Worte noch gehört. Sie grinst ebenso breit wie Papa. »Das ist so typisch Lilli!« Jetzt sehen wir uns alle an, und es ist, als ob wir dasselbe Lächeln teilen.
    Papa holt Tina einen Becher, und sie setzt sich zu uns. Plötzlich erzählen wir alle Geschichten von Lilli. Wie sie in der U-Bahn einen Kontrolleur mit einer Flunkergeschichte so gerührt hat, dass er ihr am Ende Geld für ein Taxi nach Hause gab. Brenner berichtet von einem legendären Auftritt beim Seniorenmittagstisch, als Lilli die Rentner zum Tangotanzen animierte.
    Papa zitiert sie: »Ick hab schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.« Er räumt die Teetassen weg und holt Rotwein aus der Speisekammer.
    Lilli ist wieder unter uns. Am Ende sind wir alle ein bisschen beschwipst, Pastor Brenner sagt zu, die Trauerfeier zu übernehmen, und Tina kann sich einen Kommentar nicht verkneifen: »Ich hoffe, der Talar ist lang genug!« Und dann fügt sie überflüssigerweise hinzu: »Wegen des knackigen Hinterns.«

    Lillis Unfall lässt uns aus der Zeit fallen. Welcher Wochentag? Welches Datum? Im Haus in der Wiesenstraße leben wir wie auf eine Insel der Zeitlosigkeit. Unsere Zeit heißt Kummer.

    Die Beerdigung findet an einem unwirklichen, grauen Tag statt. Lillis Mutter hat im letzten Moment abgesagt. Mit der Lillis so frappierend ähnlichen Stimme lallt sie auf meinem Anrufbeantworter: »Ick schaff det nich!«
    Also wird Lilli ohne ihre Eltern beerdigt. »Aber von ihrer richtigen Familie!«, sagt Tina und heult schon wieder. Sie hat in der Nacht vor der Trauerfeier bei mir geschlafen. Am Morgen holen uns Papa und die Unvermeidlichen in einem Großraumtaxi ab. Ich schiebe den Zwillingswagen den Weg zur Kapelle hinauf. Der Platz davor ist schwarz von Menschen: viele junge Leute, die ich nicht kenne, aber auch andere, deren Gesichter mir vertraut sind. Der türkische Gemüsehändler und der Inhaber des arabischen Grillimbisses sind gekommen, mehrere ältere Damen, denen Lilli wohl mal die Haare frisiert hat und die sich ängstlich von einer Gruppe dunkel gekleideter Leute fernhalten. Ich weiß, dass einige von Lillis Freunden sich dem sogenannten Schwarzen Block zugehörig fühlen und bei Demonstrationen im Schanzenviertel an Straßenkämpfen teilnehmen.
    Heute ist von kriegerischer Stimmung nichts zu spüren. Die Traurigkeit lässt die Menschen zusammenrücken, sie senken die Köpfe.
    Sophie, die Tischlerin, winkt mir zu. Neben ihr steht eine hübsche, mutmaßlich türkische Frau, die mit einem schlanken dunklen Mann Händchen hält.
    »Das ist Iuve, der Friseur, bei dem Lilli anfangs gejobbt hat«, flüstert mir Simon zu. Er hat vor der Kapellentür auf uns gewartet und schaut über die Beerdigungsgäste. »Das müssen über zweihundert sein.«
    »Alles Freunde von Lilli?«
    »Es sind auch welche aus Berlin gekommen. In ihrer Kontaktliste waren über achthundert Namen!«
    Die Trauerfeier fließt an mir vorbei. Simon hat ein Foto von Lilli vergrößert und ausgedruckt – es steht auf einer Staffelei vor dem Sarg. In meiner Manteltasche umklammere ich Lillis Lieblingslippenstift wie einen schützenden Talisman. Obwohl die Orgel aufrauscht und immer wieder unterdrücktes Schluchzen zu hören ist, weint keines der Kinder. Sie plappern aufgeregt und finden das Herumkrabbeln im Kirchraum so spannend, dass Simon und Papa sie abwechselnd einfangen müssen. Pastor Brenner hatte recht: Die unbefangene Krabbelei der Kinder tröstet und lenkt mich von dem beängstigenden Gedanken ab, dass Lilli da vorn unter dem geschlossenen Sargdeckel im Dunkeln liegt. Zu spät kommt mir der Gedanke, dass ich ihr das Schlummerlicht hätte mitgeben sollen …
    Endlich heben vier Träger den Sarg hoch. Sie gehen vor uns aus der Kirche. Pastor Brenner schreitet hinter ihnen, und wir folgen mit den anderen in einem langen Zug zum offenen Grab.
    Es ist der längste Gang meines Lebens, vorbei an frischen und alten Gräbern. Papa schiebt den Kinderwagen, und ich umklammere Simons Hand, als würde mich einzig dieser Halt davor bewahren, unterzugehen. Die Menge hinter uns murmelt, einmal lacht sogar jemand kurz auf. Aber die Stille, die die Träger und den Sarg umgibt, ist ansteckend. Nach und nach verstummen alle. Die Stille legt sich über den Zug wie

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