Kleine Schiffe
habe das Plakat am U-Bahn-Eingang gesehen, die Kerzen und Blumen«, beginnt Pastor Brenner. »Ich weiß, dass nichts, was ich Ihnen sagen könnte, Ihren Kummer lindert. Jedenfalls jetzt noch nicht. Aber ich dachte …« Er unterbricht sich. »Lilli war nicht in der Kirche, nicht wahr?«
Ich schüttele den Kopf. Papa stellt Teebecher und die Kanne auf den Tisch. Er setzt sich zu uns und schenkt den heißen Tee ein.
Pastor Brenner fragt: »Wann ist die Beisetzung?«
Papa antwortet: »Nächsten Donnerstag.« Er sucht Brenners Blick. »Ich hätte Sie deswegen sowieso noch angerufen. Wir haben darüber nachgedacht, was wir mit den Kindern machen sollen. Ich bin dafür, sie zu Hause betreuen zu lassen. Meine Tochter ist dagegen.«
»Wenn wir alle weggehen, macht ihnen das Angst«, sage ich. »Sie begreifen doch nicht, dass Lilli beerdigt wird. Aber für Lisa-Marie ist es später vielleicht wichtig zu wissen, dass sie bei der Beerdigung ihrer Mutter dabei war.«
Der Pastor nickt. Sein schmales, jungenhaftes Gesicht wirkt wie immer erfrischend natürlich. Er sieht aus wie der nette Nachbar von gegenüber, der vielleicht in einer Agentur arbeitet oder als Fußballtrainer. Er räuspert sich. »Herr Schneider, ich denke, dass Ihre Tochter recht hat. Nehmen Sie die Kinder mit. Sie werden auch Ihnen helfen, den Tag zu überstehen. Kinder können manchmal der größte Trost sein.«
Papa wirkt nachdenklich. Ob er wohl an Mamas Tod denkt? War ich ihm damals ein Trost? Unsere Blicke kreuzen sich. Vielleicht liest Papa in meinen Augen die Fragen oder auch das Flehen der kleinen Franziska. Damals habe ich mir nichts mehr gewünscht, als zu spüren, dass ich trotz Mamas Tod ein Trost für Papa war. Dass ich keine Schuld an ihrem Sterben hatte. Papa lächelt mir verkrampft zu. Aber er lächelt. Und ich lächele zurück.
»Würden Sie denn die Ansprache bei der Beisetzung übernehmen?«, wendet sich Papa an den Pastor. »Vom Bestattungsunternehmen haben sie uns eine Beerdigungsrednerin angeboten – aber so was wollen wir nicht. Nicht für unsere Lilli – ich hätte Sie schon früher fragen sollen.«
Ich schaue ihn ärgerlich an. »Lilli war nicht besonders begeistert von der Kirche«, sage ich leise und trinke einen Schluck Tee. Weil ich Pastor Brenner nicht vor den Kopf stoßen will, füge ich jedoch hinzu: »Sie persönlich fand sie aber nett.«
Der Pastor nickt und runzelt die Stirn. »Normalerweise ist das nicht einfach. Kirchlicher Beistand gilt vor allem den Mitgliedern der Kirche. Obwohl ich gern in Ihrem Fall eine Ausnahme machen würde. Quasi auf dem kleinen Dienstweg.«
Papa lugt aus seinem Rollkragen hervor. Auf seinem Gesicht liegt überraschend ein breites Grinsen. Ungläubig starre ich ihn mit meinen verheulten Froschaugen an.
»Was ist so witzig?«
Papa erschrickt und wird wieder ernst. »Ich musste gerade daran denken, was Lilli am letzten Samstagmorgen gesagt hat.« Er beugt sich vor. »Lucia und ihre Brüder waren zur Nachhilfe hier. Franziska hatte oben noch zu tun.« Er spricht über den Morgen, an dem Andreas überraschend auftauchte. Über den Morgen, an dem Simon weggelaufen ist. Über den Tag, an dem Lilli starb. »Also, die Kinder sprechen miteinander. Oben streiten sich Franziska und Simon, ihr Freund.«
Ich fahre hoch. »Papa! Das interessiert doch Pastor Brenner nicht!«
»Das will ich ja auch gar nicht erzählen. Warte doch ab!«
Ich werfe ihm einen zornigen Blick zu. Wie schnell trotz allem Verständnis füreinander in diesen Tagen die Stimmung kippt! Die Nerven liegen blank. Schließlich senkt Papa den Kopf. Doch er muss schon wieder grinsen.
Brenner lächelt mir zu. »Ich bin verschwiegen! Und mich interessiert nun doch, was Herr Schneider so erheiternd findet. Gerade jetzt könnten wir ein bisschen Heiterkeit gut gebrauchen.«
»Heiterkeit? Sie gefallen mir!« Wieder brause ich auf.
Doch Brenner lässt sich nicht beirren. Er ist verständnisvoll, freundlich und gar nicht überheblich. Erstaunlicherweise entspannt mich das. Also lasse ich Papa weiterreden und hoffe, dass er mein Privatleben nicht weiter vor Brenner ausbreitet.
Papa erzählt: »Emir zeigt also nach oben, wo der Streit im Gange ist. Er sagt: ›Muss Liebe schön sein.‹ Dragan sagt: ›Das ist doch der pure Stress.‹ Emir wieder: ›Ja, wie die Schule.‹ Lilli mischt sich ein und meint: ›Lieber Liebe als Schule!‹ Das finden die Jungs auch. Aber dann machen sie sich einen Spaß daraus. Lucia sagt: ›Aber lieber
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