Kleine Schiffe
mir widerwärtig. Trotzdem lehnte ich erst einmal ab. »Du kanntest sie doch kaum.« Andreas lächelte mich traurig an und sagte: »Aber ich kenne dich .« Und dann ist er mit Papa und den Unvermeidlichen zu dem Bestatter gefahren. Taktvollerweise haben sie mir Einzelheiten erspart, und ich frage nicht. Papa hat knapp aus seinem Rollkragen genickt. »Fast alles geklärt; bis auf ein paar Details.« Damit gebe ich mich zufrieden.
»Ich informiere Lillis Mutter in Berlin, unsere Hebammen und die Kinderärztin«, fange ich jetzt, mit Simon am Tisch sitzend, an. »Aber wie erreichen wir ihre Freunde? Von den meisten kenne ich nur die Vornamen.«
Simon springt auf und geht hinauf in Lillis Zimmer. Bis jetzt habe ich vermieden, dort aufzuräumen, ich betrete es nur, um frische Wäsche für Lisa-Marie aus dem Schrank zu holen.
Simon bringt Lillis abgegriffenen Laptop mit. »Wir holen uns die Adressen einfach aus Lillis Kontaktliste. Und über Schüler-VZ erreichen wir auch viele.«
»Aber wie soll das funktionieren? Kennst du etwa ihr Passwort?«
Simon meidet meinen Blick. »Ja, wenn sie es nicht im letzten Moment geändert hat.«
Ich bin verwirrt. »Wie kommt das?«
Simon tippt konzentriert. »Na, du kennst doch Lilli, unsere Chaotin.« Er beißt sich auf die Unterlippe. »Ich wollte jetzt nichts Schlechtes über Lilli sagen.«
Er beschäftigt sich weiter mit dem Computer. »Hier!« Er dreht den Laptop um, so dass ich auf den Monitor sehen kann. »Das ist ihr Mail-Programm. Und da ist ihr Adressbuch.«
»Simon! Du kannst doch nicht einfach in ihren Mails rumwühlen.«
»Ich habe nicht vor, ihre Mails zu lesen. Ich interessiere mich nur für das Adressbuch!« Er hebt den Kopf. » Du willst schließlich ihre Freunde zur … Beerdigung einladen.« Das Wort kommt ihm schwer über die Lippen, seine Augen glänzen.
Ich lenke ein: »Es fällt mir schwer, ihre Sachen zu benutzen oder anzufassen, das ist alles.«
»Klar. Übrigens, ich kenne ihr Passwort, weil ich ihr damals das Laptop eingerichtet habe. Außerdem muss man kein Genie sein, um auf Lillis Passwort zu kommen.«
Wir sehen uns an. Einer Eingebung folgend sage ich: »Elvis!«
Simon nickt. »Genau.« Er will noch etwas sagen, besinnt sich dann aber anders.
Ich stupse ihn an. »Was ist?«
Simon wirft mir einen nervösen Blick unter zusammengezogenen Augenbrauen zu. Er holt Luft, zieht die Schultern hoch, gibt sich einen Ruck und sagt: »Einmal hättest du es ja doch erfahren. Wir fanden es nur bisher einfach nicht wichtig.«
»Wir? Was denn?«
Simon nimmt meine Hand. »Bevor wir uns kennenlernten … Also, ich war kurze Zeit mit Lilli zusammen.«
»Du warst mit Lilli zusammen? Ihr wart … ein Liebespaar?« Ich will ihm meine Hand entziehen, doch Simon hält sie fest.
»Ja und nein. Franzi! Ich habe Lilli nicht geliebt. Wir haben vor langer Zeit einmal zwei oder drei Nächte miteinander verbracht. Dann tauchte David auf.«
Ich fühle in mich hinein: Da ist keine Eifersucht. Kein neuer Schmerz. Nur ein großes Staunen. Ich habe mir nie Gedanken darüber gemacht, woher Simon und Lilli einander kennen. Und wieso Lilli ihm damals ihren Schlüssel so vertrauensvoll überlassen hat. Wieder sehe ich Simon in Lillis Zimmer auf der Leiter stehen. Unser erstes Treffen. Eifersucht? Wie lächerlich erscheint mir dieses Gefühl heute im Angesicht des Todes. Es gibt Wichtigeres. Selbst wenn Lilli noch lebte – wofür ich meinen rechten Arm geben würde –, selbst dann wäre ich wahrscheinlich nicht eifersüchtig. Es würde mir nur einen heftigen Stich versetzen, und ich würde mich einmal mehr fragen, ob Simon meinen Körper tatsächlich begehrenswert findet.
Ich wünsche mir so sehr, dass Lilli in ihrem viel zu kurzen Leben genug Zuneigung, Freude und Wärme erfahren hat! Wenn Simon ihr das geben konnte, und sei es nur für kurze Zeit, freue ich mich aus tiefstem Herzen. Lilli war Anfang zwanzig, Simon ist Anfang zwanzig. Sie haben sich da draußen in der freien Wildbahn zwischen Disco, Party und Kneipe, im Irrgarten der Gefühle, Wünsche und Pläne getroffen und waren vielleicht ein wenig verliebt. So wie Tina ständig meinte, verliebt zu sein, als sie jünger war. Und dann doch immer wieder herausfand, dass sie sich in die Liebe an sich und ins Leben verliebt hatte. Jedenfalls war das meistens das Ergebnis tränen-und alkohlgetränkter Bewältigungsabende, in deren Verlauf mir Tina ihre jeweils letzte missglückte, traurige Liebesgeschichte erzählte. Ich
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