Kleine Schiffe
eine Decke. Sogar die Kinder werden von ihr erfasst. Mit großen blanken Augen sitzen sie im Wagen und geben nur ab und an einen Laut von sich. Wir kommen vor dem Grab an.
Zwei Möwen fliegen in großer Höhe über uns, ihre weißen Federn zeichnen sich hell vor dem schiefergrauen Himmel ab. Sie stoßen gellende Schreie aus, die mir durch Mark und Bein gehen.
Die Träger lassen den Sarg langsam in der Erde versinken.
Pastor Brenner spricht die alte Formel: »Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.« Er tritt zurück, um den Weg zu den bereitstehenden Schaufeln freizugeben, mit denen die Trauergäste Erde in das Grab fallen lassen. Simon, Tina und ich ziehen es vor, nacheinander rote Rosen hinunterzuwerfen. Nur Papa ergreift die Schaufel. Die Erde schwankt unter meinen Füßen, als ich wieder in unsere Reihe zurückgehe. Lilli, wo bist du nur?
Da erklingt unerwartet leise Gitarrenmusik und dann Elvis’ Stimme: »When you walk through a storm/Hold your head up high/And don’t be afraid of the dark …«
Köpfe drehen sich, für einen kurzen Moment herrscht Unruhe.
Davids Freund Oliver tritt vor – er trägt einen Ghettoblaster in den Armen. Während die anderen Blumen und Erde ins Grab werfen, steht er unbeweglich da. Seine dunklen Locken kräuseln sich um sein schmales, blasses Gesicht, das von Tränen überströmt ist.
Ich blicke Simon an. »Stand Oliver Lilli so nahe?«
Simon zuckt mit den Achseln. »Keine Ahnung. Ich glaube, der war schon immer in Lilli verliebt. Aber Lilli hatte ja nur Augen für David.«
Das steigert meine Traurigkeit noch mehr. Da war Lillis Glück vielleicht in ihrer Nähe, und sie hat es nicht gesehen. Wäre Lilli an jenem Abend nicht David in die Arme gelaufen, hätte sie vielleicht mit Oliver ein kleines Glück erleben können.
Ich flüstere Simon zu: »Wenn ich doch nur wüsste, was genau in dieser Nacht geschehen ist!«
Simon legt den Arm um mich. »Quäl dich nicht, Franzi.« Aber an seinem konzentrierten Blick merke ich, dass er seine Tränen nur mühsam zurückhält.
Die Musik schwingt sich hinauf zu den bleiernen Wolken. Elvis’ Stimme. »When you walk through a storm/Hold your head up high/And don’t be afraid of the dark./At the end of a storm/Is a golden sky/And the sweet, silver song of a lark./Walk on, through the wind,/Walk on, through the rain,/Though your dreams be tossed and blown./Walk on, walk on with hope in your heart,/And you’ll never walk alone,/You’ll never walk alone.« Erst summt nur einer mit, dann noch einer. Ich sehe, dass die Trauernden einander an den Händen fassen, und spüre, wie Papas Hand meine Linke ergreift. Rechts fühle ich Simons Hand. Wir singen alle mit. Aus vielen Kehlen erklingt über dem Grab: »Walk on, walk on … you’ll never walk alone.«
Anschließend fahren Tina und ich mit den Kindern nach Hause. Sie sind müde und hungrig, und wir sehnen uns danach, den Rest des Tages ruhig vor dem Kamin zu verbringen.
Auf den traditionellen Leichenschmaus verzichten wir – mir hat es schon bei dem Wort gegraust. Papa und die Unvermeidlichen verschwinden zu der Kneipe, die dem Schachclub gegenüberliegt. Lillis Freunde bleiben noch auf dem Friedhof, sie wollen später hinunter zur Elbe, um für Lilli am Elbstrand ein Feuer anzuzünden. Simon begleitet sie. Er ist so still – manchmal habe ich das Gefühl, dass Lilli ihm weitaus mehr bedeutet hat, als ihm selbst bewusst war. Vielleicht hat er sie mehr geliebt, als er eingesteht? Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ihn und Lilli ein Geheimnis umgibt, das mich zunehmend verunsichert. Noch aber fühle ich mich nicht stark genug, um Simon darauf anzusprechen.
Zu Hause höre ich auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht des Vormundes vom Jugendamt: Davids Eltern haben kein Interesse an Lisa-Marie.
Ich hebe nacheinander Lisa-Marie und Amélie aus der Karre. Tina hilft mir, ihnen die Schneeanzüge auszuziehen. Sie krabbeln sofort ins Spielzimmer. Tina verzieht das Gesicht, als ich von dem Anruf des Jugendamts erzähle. »Kein Interesse? Was für eine merkwürdige Formulierung! Lisa-Marie ist doch kein Gegenstand, den man kauft oder nicht!«Dann fügt sie an: »Ist David eigentlich schon beerdigt?«
Das weiß ich nicht. Ich habe Davids Eltern eine Traueranzeige mit dem Beerdigungstermin geschickt, aber sie haben sich nicht bei mir gemeldet.
Wir bringen auch diesen Tag herum. Obwohl die Stunden quälend langsam verstreichen. Wir unternehmen noch einen Spaziergang in der kühlen
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