Kleine Schiffe
aufgebrochen war. Wieso hat sie sich doch wieder mit David getroffen? Auf wen war ihre Äußerung gemünzt, dass es noch andere Männer als David gibt und sie nach vorn blicken müsse? Vergeblich versuche ich mich an unsere letzten Gespräche zu erinnern. Offensichtlich hatte sich Lilli doch nicht von David getrennt. Warum ist sie sonst in sein Auto gestiegen? Und warum hat sie mir nie davon erzählt, dass sie ihren Vater im »Pik-Ass« gefunden hatte? Sie muss ihn gefunden haben, sonst hätte sie doch diese Adresse nicht notiert!
Als ich mit Tina darüber spreche, versucht sie mich zu trösten. »Lilli war eine Geheimniskrämerin, das weißt du doch. Geheimnisse sind für manche Menschen wichtiger als für andere. Geheimnisse schützen etwas, was nur dir allein gehören soll. Außerdem wäre ihr mit einer Offenlegung der Weg in ihre Wunschwelt versperrt worden. So konnte Lilli weiter von einem Happy End träumen. Und du mit ihr.«
Lisa-Marie ist trotz einer leichten Erkältung genauso vergnügt wie immer. Tina nimmt sich dennoch abends besonders viel Zeit, sie ins Bett zu bringen. Sie sagt: »Wer weiß, was in ihrer kleinen Seele los ist.«
In meiner Seele herrscht Aufruhr. Und Leere. Simon hat sich nach der Nacht nach dem Unfall einfach verdrückt. Zwar mit dem Spruch »Ruf mich an, wenn du mich brauchst«, aber der klang in meinen Ohren recht halbherzig. Vielleicht ist er immer noch eifersüchtig auf Andreas, der noch einen Tag drangehängt hat und in Hamburg und bei uns geblieben ist?
Erstaunlicherweise ist es Papa, der bei mir um Verständnis für Simon bittet. »Du bist nicht die Einzige, die Lilli verloren hat. Der Junge hat großen Kummer«, sagt er zwei Tage nach dem Unfall zu mir. Wir warten auf einen Beamten vom Jugendamt, der sich telefonisch angemeldet hat, um die »Lebenssituation des Säuglings Lisa-Marie Urbschat« zu begutachten.
»Ich auch!«
Papa zupft an seinem Rollkragen. »Ich weiß, Franzi. Aber du kennst …« Er wirft mir einen unsicheren Blick zu und verbessert sich: » Wir kennen den Tod bereits. Simon ist sehr jung. In seinem Alter hält man sich noch für unsterblich. Warum, meinst du, schicken die im Krieg immer die jüngsten Soldaten an die Front? Weil die noch keine Angst haben zu sterben. Für Simon ist Lillis Tod noch viel unfassbarer als für dich.«
Glücklicherweise klingelt es in diesem Moment an der Tür, denn sonst wäre ein Streit zwischen uns unvermeidlich gewesen. Lillis Tod wirft mich ständig zwischen tiefer Trauer und unsinniger, rasender Wut hin und her. Für Simon soll Lillis Tod unfassbarer sein als für mich? Schmerz lässt sich nicht messen.
Herr Scherz vom Jugendamt ist ein freundlicher, interessiert wirkender Mitfünfziger. Er sieht sich die Schlafzimmer an, lobt, dass jedes Kind ein eigenes, sauberes Bett hat, inspiziert Badezimmer, Küche und das Spielzimmer. Er bleibt auf einen Kaffee, stellt ein paar Fragen, füllt dabei Formulare aus und beobachtet Amélie, die auf meinem Schoß, und Lisa-Marie, die auf Papas Schoß sitzt. Nach einer knappen Stunde verabschiedet er sich freundlich.
»Wie geht es jetzt weiter?«, frage ich, als wir im Hausflur stehen.
»Wir informieren die Großeltern des Kindes über die Lebenssituation und klären die Interessen aller Parteien ab. Im Moment ist Lisa-Marie hier in ihrer vertrauten Umgebung wohl am besten aufgehoben. Wir halten Sie auf dem Laufenden, Frau Funk.« Bevor er sich zum Gehen wendet, sagt er mit unerwarteter Wärme: »Viel Glück.«
Eine Woche nach dem Unfall sitzen Simon und ich am Küchentisch und überlegen, wer wegen der Beerdigung benachrichtigt werden muss. Simon hat sich sofort bereit erklärt, mir zu helfen, als ich ihn deswegen anrief. Und als er durch die Tür kommt und mich in den Arm nimmt hat, ist keine Fremdheit zwischen uns. Ich sehe in seine traurigen Augen, sehe die dunklen Schatten darunter, die ungewohnt scharfen Falten um den blassen Mund und erkenne, dass Papa recht hatte. Simon hat sich nicht verdrückt, Simon trauert. Mit jeder Faser seines jungen, entsetzten Herzens. Papa und die Unvermeidlichen haben einen Bestatter ausgesucht, den ihnen Pastor Brenner empfohlen hat. Andreas, der damals die Beerdigung für Johannes organisierte, hatte sich angeboten, uns zu dem Bestatter zu begleiten, bevor er nach Aabenraa zurückfuhr. Vielleicht merkte er, wie viel Angst ich vor diesem Termin hatte. Die Vorstellung, über Preise von Leichenhemden, Blumengestecke und Särge zu diskutieren, war
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