Kleine Schiffe
vom Flur in die Küche schleppen musste. Im Anschluss habe ich mir beim Einsetzen der Schrauben für die Schublade zwei Fingernägel abgebrochen und den Daumen blaugehämmert. Vom Streichen habe ich immer noch mörderischen Muskelkater in den Oberarmen – die Dachschrägen haben es in sich.
Jetzt fehlen noch ein paar Anschlüsse, Steckdosen und Lampen. Aber der Anblick der herabhängenden Kabel und der noch zu streichenden Türen entmutigt mich, und auf einmal verspüre ich nur noch die Lust, etwas Kleines, Überschaubares zu basteln. Klappkarten! Das erscheint mir viel einfacher als die letzten Renovierungsarbeiten. Und ich habe bei meinem jüngsten Streifzug durch das Schanzenviertel im Büromarkt Hansen nostalgische Aufkleber mit Glitzerengeln gekauft … Denn natürlich bestelle ich nicht bei irgendeinem Homeshopping-Sender oder im Versandhandel für Bastelbedarf. Nein, ich bin Jägerin. Und als solche schleppe ich die Beute in meine Höhle und füge sie meinen Vorräten hinzu, mit denen ich jede Kindertagesstätte zwei Wochen lang nonstop bebasteln könnte. Ich sitze also am Küchentisch – und am Ende liegen fünfzehn Klappkarten vor mir. Weihnachten kommt bestimmt! Ich bin so vertieft in die letzten Feinheiten, dass mich erst das Telefon wieder zurückholt. »Wo bleibst du denn?«, keift Tina in mein Ohr. Der Kochkurs! Heute ist der erste Abend. Ich weiß schon, warum ich lieber bastele – da habe ich wenigstens keine unternehmungslustige Tina an meiner Seite.
Der Kochkurs wird ein Reinfall. Das liegt vor allem an meiner körperlichen Verfassung. Ich lande deutlich weniger enthusiastisch als Tina im »Nil«. Sie erwartet mich aufgekratzt mit einem Glas Prosecco in einer Gruppe gutgelaunter, miteinander schwatzender Menschen. Bevor sie mich begrüßt, wirft sie einen strafenden Blick auf mein rechtes Hosenbein. Das habe ich hochgekrempelt, weil Andreas’ altes Fahrrad, das er nicht mit nach Dänemark genommen hat, keinen Kettenschutz besitzt. Immerhin habe ich mir ihren Hinweis zu Herzen genommen und eine elegante, weiße Leinenhose zu meinem besten schwarzen T-Shirt angezogen. Tina selbst hat ihre langen seidigen Haare zu einer formschönen Banane aufgedreht, trägt eine blütenweiße Bluse und eine enge, weiß-blau karierte Hose. Wäre sie nicht deutlich über 1,70 Meter groß, würde man sie glatt für Audrey Hepburn während ihrer kulinarischen Ausbildung in »Sabrina« halten.
»Dein Hosenbein!«, zwitschert sie jetzt nachdrücklich und gibt mir einen leichten Kuss auf die Wange.
Bevor ich abtauche, um den Makel zu beseitigen, raune ich zurück: »Du siehst großartig aus – so stelle ich mir eine Sterneköchin vor.«
Das ist keine oberflächliche Schmeichelei. Selbst wenn ich mein Idealgewicht halte, sehe ich neben Tina immer ein bisschen mollig und mopsig aus. Und meine blonden Locken lösen sich sowieso aus jeder Frisur – ich lasse sie einfach schulterlang herunterwachsen.
Früher störte mich das nicht weiter. Ich sah vielleicht aus wie ein Mauerblümchen, aber ich hatte Andreas. Tina dagegen sah immer aus wie ein Model, hatte aber ständig Liebeskummer, Beziehungsprobleme, Singlefrust. Durch die Trennung und die Scheidung hat sich das Ganze etwas verschoben, und ich kann es noch nicht richtig einordnen. Ich wollte nie ein Single sein. Doch jetzt bin ich es, scheitere an dem Zusammenbau eines Küchenschranks und treibe mich in Kochkursen herum, die ich so nötig habe wie Lippenherpes.
Kurz: Ich fühle mich nicht gerade in Topform, als ich mich nach unten beuge, um das hochgekrempelte Hosenbein runterzuwickeln: etwas verschwitzt, mit Muskelkater und schlaffen Gliedern. Dazu habe ich seit Tagen leichte Spannungsgefühle in den Brüsten und leide unter PMS. Durch den Stress und die ungewohnte körperliche Arbeit hat sich meine Periode verspätet. Vielleicht sind es auch bereits Symptome der Wechseljahre? Dass ich heute Morgen zu allem Überfluss auch noch einen Pickel auf dem linken Nasenflügel entdeckt habe, werte ich als eine der größten Ungerechtigkeiten überhaupt. Ich dachte, wenn man die ersten Falten bekommt, verschwinden wenigstens die Pickel. Aber wie sooft belehrt uns das Leben eines Besseren.
Als ich aus der Hocke hochkomme, fällt mein Blick auf einen Mann, bei dem mir der Atem stockt. Und der mich so strahlend anlächelt, als sei ich seine Traumfrau.
Jetzt verstehe ich, was Tina in Kurse wie diese treibt. Oder besser: wer. Solche Männer trifft man im Drogeriemarkt
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