Kleine Schiffe
äußerst selten. Und ich verstehe die aufgeregte, summende Atmosphäre im Restaurant. Denn der Mann, der mir herzlich lächelnd mit der einen Hand ein Glas reicht, während er mit der anderen ein Klemmbrett hält, sieht nicht nur gut aus – er hat eine so freundliche Ausstrahlung, dass ich beinahe fühle, wie ihm mein Herz zufliegt. Er ist nicht besonders groß, aber er hat vergnügte, offene Augen, kurze schwarze Haare und ein sympathisches Lächeln. Er ist bestimmt immer Klassensprecher gewesen und umschwärmter Kapitän der Schulmannschaft, schießt es mir durch den Kopf. Und wenn ein Neuer in die Klasse kam, hat er sich als Erster vorgestellt und die übliche Mauer von Schüchternheit und Fremdeln mit einem freundlichen Satz durchstoßen. So jemanden wünschen sich Männer als Freunde und Frauen als Liebhaber …
»Hallo, ich bin Stefan – und du?«
Tina stößt mich in die Seite. »Du bist gemeint, Franzi!«
Verwirrt sehe ich erst sie, dann den Mann an. »Hm?«
Ringsum wird gelacht und gekichert, alle starren mich an.
Ich spüre, wie ich rot werde. »Entschuldigung, ich war in Gedanken.«
Stefan hält mir immer noch das Glas hin. »Kein Problem, wir fangen einfach noch einmal von vorn an.« Er hebt das Glas in meine Augenhöhe und lächelt erleichtert, als ich es ihm endlich abnehme. Dann konsultiert er sein Klemmbrett. »Es fehlen immer noch zwei, aber vielleicht kommen die gar nicht. Eine Abmeldung habe ich zwar nicht erhalten, aber …«
Er zählt die Gruppe durch, wirft einen Blick auf die große Uhr über dem Tresen. Dann wendet er sich den Teilnehmern zu. »Kommt doch bitte alle zusammen, damit wir uns vorstellen können.« Er nickt mir aufmunternd zu. »Dass ich Stefan bin, haben wohl alle mitbekommen. Ich bin Koch, leite den Kurs, komme aber leider nicht aus Wien. Falls keiner etwas dagegen hat, schlage ich vor, dass wir uns duzen. Ihr werdet sehen: In der Küche ist nicht viel Platz für Höflichkeiten, das ›Du‹ macht alles etwas leichter. Ich möchte jetzt gern mit einer kleinen Vorstellungsrunde beginnen. Dabei interessieren mich außer euren Namen die Gründe, warum ihr diesen Kurs machen wollt.« Er zeigt auf mich. »Die Letzten werden die Ersten sein. Bitte!«
Ich bin nicht besonders schüchtern, aber ich hasse solche Momente. Bestimmt leuchtet mein Pickel wie eine Ampel … »Ich bin Franziska und ich mache diesen Kurs, weil mich meine Freundin dazu überredet hat«, erkläre ich wahrheitsgemäß und zeige auf Tina.
Alle lachen. Auch Stefan, der den Ball aufnimmt und sich sofort an Tina wendet. »Prima, dann kann uns Tina bestimmt erklären, warum sie Franziska ausgerechnet zu diesem Kurs überredet hat!«
Tina wird natürlich kein bisschen rot, sie schenkt ihr hinreißendes Lächeln Stefan und einem Mitvierziger im Anzug, der in ihr Beuteschema passt, und gurrt: »Ach, weißt du, Stefan, österreichische Küche finde ich einfach unglaublich …« – sie pausiert bedeutungsvoll und lässt dann das Wort in den Raum fließen wie warme Schokoladencouvertüre auf einen frisch gebackenen Kuchen – »… unglaublich sinnlich.«
Stefan sieht sie so erfreut an, als hätte sie ihm gerade einen Michelin-Stern verliehen. »Wunderbar! Das geht mir auch so. Dann bist du hier richtig.« Er wendet sich an die Gruppe. »Italienische Küche – si, naturalmente. Französische Küche – o, là, là! Aber am sinnlichsten ist eindeutig die Küche aus Österreich. Heute Abend werdet ihr alle einen Strudel machen, und wer schon einmal Strudelteig in der Hand gehabt hat, weiß, wovon ich spreche: ein einmaliges taktiles Erlebnis, für das es kaum Worte gibt. Der Teig muss sich nämlich so anfühlen wie ein Babypopo …« Bei den Worten »taktiles Erlebnis« verschleiern sich Tinas Augen erwartungsfroh. Mir dagegen wird heiß, und ich habe das Gefühl, leicht zu schwanken. Der Prosecco scheint mir nicht zu bekommen.
Als Nächstes stellt sich der Anzug vor. Er heißt Bernhard, hat im Skiurlaub die österreichische Küche lieben gelernt und den Kurs von Freunden zum Geburtstag geschenkt bekommen. Tina wirft mir einen »Na-bitte!«-Blick zu.
Es folgen die Freundinnen Angelika und Heidrun, die keinen Platz mehr in dem Kurs Mai-Küche bekommen haben und »einfach neugierig« sind. Bei dem Wort »neugierig« lächelt Heidrun, eine schmale Enddreißigerin mit Überbiss, erst Stefan, dann Bernhard beseelt an.
Dies veranlasst Tina, Stefan ihr Glas zum Nachschenken hinzuhalten, um die Aufmerksamkeit wieder
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