Kleiner Hund und große Liebe
weißt, was mich bedrückt. Dann brauche ich ja nichts zu erzählen. Sag mir lieber, was du glaubst.“
Jetzt ließ Mama die Strickarbeit doch sinken.
„Du denkst sehr viel an Ingo, nicht wahr?“ Wieder schoß eine heiße Welle in mein Gesicht.
„Ja, das stimmt.“
„Und es war hart für dich, zu erfahren, daß er ein guter Freund von Miriam ist?“ Ich nickte.
„Und dann sah dein Problem so aus: Miriam hat furchtbar viel durchgemacht. Sie brauchte dringend Hilfe. Daß sie Ingo kennenlernte, war ein wahrer Segen für sie. Ich selbst - hast du gedacht - habe so viel Schönes im Leben. Ich habe mein Haus, meine Eltern, meinen Bruder, die Tiere. Ich darf keinen Finger krumm machen, um Miriam ihren Freund wegzunehmen.“
„Ja, Mama. Genau so war es.“
„Und heute, an diesem denkwürdigen Tag, kam ein neues Gefühl dazu: Miriam ist nicht mehr allein. Sie hat Familie; sie hat das, was sie am dringendsten brauchte, das, was sie mehr als alles andere vermißt hat. Ob sie jetzt nach wie vor Ingo brauchen wird? Wird sie nicht von ihrer Familie alle Hilfe bekommen - und wäre es nicht möglich, daß sie sich in den netten Daniel verlieben würde?“
„Mama, du faßt jetzt alles in Worte, was ich nur gedacht habe. Du drückst das aus, was mir selbst noch nicht so ganz bewußt war!“ „Siehst du, Kind, das einzige, das du vorläufig tun kannst, ist abzuwarten. Ingo ist im Ausland, du kannst ihn nicht sprechen. Miriam auch nicht. Vielleicht ist es gut so. Die Situation muß sich zuerst etwas klären. Ja, und was Ingo betrifft, da habe ich eine Theorie. Die würde dich vielleicht interessieren?“
„Und ob, Mama! Und ob!“
„Als du den Brief von Ingo bekamst, hast du mir erzählt, daß er ein persönliches Problem erwähnt hatte, so war es doch!“
„Ja, so war es. Aber er hat gar nicht gesagt, worum es sich handelte.“
„Und wenn nun Miriam das Problem gewesen ist? Wenn sein Problem ungefähr so aussähe: Die arme Miriam braucht mich, der Himmel weiß, ob sie zurück in diese gräßliche Sekte gehen würde, falls ich sie jetzt im Stich ließe. Ich habe es auf mich genommen, ihr zu helfen, und ich darf nicht auf halbem Wege stehenbleiben. Nach einiger Zeit muß ich ihr beibringen, daß sie sich von mir unabhängig machen soll. Und erst, wenn das geschehen ist, wenn ich reinen
Tisch gemacht habe, kann ich mich an ein anderes Mädchen binden, in Freundschaft oder Liebe.“
„Ein anderes Mädchen.“, wiederholte ich.
„Ich sagte nicht, daß es so sein muß“, erklärte Mama. „Ich betrachte es nur als eine Möglichkeit.“
„Mama, hat Miriam dir denn auch erzählt, wie sie Ingo kennenlernte?“
„Ja. Sie erzählte es eines Vormittags beim Wäschelegen! Nachher dachte ich sehr über die Sache nach. Miriam hat ihn doch, nachdem er bei uns war, nur ein einziges Mal getroffen, und dann war er in großer Eile. Ich frage mich nur: Wenn es seinerseits mehr als eine nette Freundschaft gewesen wäre, mehr als der Wunsch, einem unglücklichen Menschen zu helfen, hätte er sich dann nicht trotz allem die Zeit genommen, ihr von seinen Erlebnissen hier zu erzählen, ein bißchen ausführlich mit ihr zu reden? Verstand er, daß es noch zu früh sein würde, ihr reinen Wein einzuschenken? Daß sie ihn noch eine Zeitlang als ihren festen Punkt brauchte?“
„Mama“, sagte ich leise. „Meinst du, daß ich der reine Wein sein könnte?“
Mama lächelte.
„Ich halte es nicht für ganz unmöglich.“
„Aber wie kommst du denn darauf?“
„Ich habe Augen im Kopf“, antwortete meine kluge Mutter.
Ich hatte viel, sehr viel zu denken bekommen.
Oh, wie war ich froh, daß ich mit Mama gesprochen hatte! Ich Schaf, warum hatte ich nicht eher begriffen, daß Mama meine allerbeste Freundin ist? Es wurde mir klar, was für eine phantastische Hilfe eine gute Mutter ihrer Tochter geben kann. Sie hat die Liebe der Mutter, die Freundschaft und das Interesse einer guten Freundin, und die Lebenserfahrung eines reifen Menschen.
Und jetzt brauchte ich sowohl die Liebe als auch das Interesse und die Lebenserfahrung! „Warten“, hatte Mama gesagt.
Gut. Ich wartete darauf, wie alles sich entwickeln würde!
Miriam kam zurück. Eine neue Miriam. Ein strahlend glückliches Mädchen mit blanken Augen, mit einer neuen Haltung, einem neuen Gesichtsausdruck. Es war Daniel, der sie zurückbrachte und uns erzählte, daß wir uns mit dem Gedanken vertraut machen müßten, daß Miriam uns bald verlassen würde.
„Unsere ganze
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