Kleiner Hund und große Liebe
mir ihren ganzen Leidensweg, und von ihrer eigenen Dämlichkeit; unglaublich, daß ich eine so doofe Cousine habe.“
„Nur zweiten Grades!“ erinnerte ihn Miriam.
„Gott sei Dank! Ja, und als wir fünfmal durch den Park und siebenmal um das Holstentor gewandert waren, standen Miriams Zukunftspläne fest - entworfen von ihrem Vetter, der zum Glück ein bißchen vom Familiengrips geerbt hat!“
„Aber vielleicht nicht die Familienbescheidenheit?“ kam es von Miriam.
„Nur wenn sie angebracht ist! Also, Miriam kommt zuerst zu meinem Opa und läßt sich nach Strich und Faden verwöhnen. Zu Neujahr zieht sie mit Tante Ruth nach Nürnberg, und da soll sie schön wieder die Schulbank drücken und mit etwas Verspätung ihr Abitur machen!“
„Und das hast du dir alles ausgedacht?“ fragte ich, und war mir gar nicht bewußt, daß ich Daniel duzte. Er später wurde es mir klar. Aber Daniel fand es anscheinend in Ordnung.
„Klar habe ich das. Und ich werde öfter den Katzensprung von Würzburg nach Nürnberg machen, um dort nach dem Rechten zu sehen und mir das Zeugnisheft vorzeigen zu lassen!“
Miriam lachte. Ein glückliches Lachen, ein neues Lachen. Da war eine Freude über diesen leichten, neckischen, unbeschwerten Ton, über die Vertraulichkeit.
Miriam hatte jetzt einen festen Punkt im Leben. Daniel mußte aufbrechen. „Sonst denkt der gute Opa, daß ich sowohl sein Auto als auch seine Nichte und mich selbst zu Mus gefahren habe“, erklärte er.
In diesem Augenblick erschien mein immer unternehmungslustiger Bruder in einem Zustand, der Mama dazu zwang, ihn sofort ins Badezimmer zu führen. Vom Flur aus rief er Daniel zu: „Wann kriegen wir unseren Fernseher zurück!“ Daniel schlug sich auf die Stirn.
„Himmel! Den Fernseher habe ich total vergessen! Aber ich bringe ihn morgen, und dann kann ich gleichzeitig dich abholen, Miriam!“
„Schon morgen? Dann muß ich schleunigst packen! Ach, weißt du, Daniel, du könntest eigentlich gleich ein paar schwere Sachen mitnehmen, den Wintermantel und die hohen Stiefel vielleicht?“
„Zu Befehl! Hol die Klamotten!“
„Es dauert nur eine Minute!“ rief Miriam und lief schon die Treppe hoch.
Daniel sah ihr nach, dann wandte er sich zu mir. „Habe ich nicht eine hübsche Cousine?“
„Unbedingt“, stimmte ich zu. „Aber vergiß nicht, nur zweiten Grades!“
„Das vergesse ich bestimmt nicht! Wir hatten gemeinsame Urgroßeltern, aber von da ab trennten sich die Familienzweige, und jetzt sind wir weit genug voneinander entfernt!“
„Genug - wofür?“ fragte ich.
Ich bekam keine Antwort. Das war aber auch nicht nötig. Schon kam Miriam die Treppe herunter mit ihrem Mantel und den Stiefeln, und dann brachte sie Daniel zum Auto.
Ich schreibe einen Brief
An diesem Abend half ich Miriam beim Packen. Sie brauchte Zeit dazu, denn Miriam ist, wie ich schon erzählt habe, ganz unheimlich ordentlich und genau.
„Es ist so schön, dich anzusehen, Miriam“, sagte ich. „Du siehst so unsagbar glücklich aus!“
„Ich bin auch unsagbar glücklich, Elaine“, erwiderte Miriam. „Es ist mir, als habe ich jetzt festen Fuß gefaßt, mein Leben hat einen Sinn bekommen. Eine vernünftig geplante Zukunft, eine große und liebe Familie, eine Mutter, die auch glücklich ist.“
„. und Daniel“, ergänzte ich. Eine feine Röte stieg in Miriams Wangen.
„Ja, Daniel“, wiederholte sie, und dann schwieg sie. Ich wartete einen Augenblick, dann wagte ich zu fragen: „Und was ist mit Ingo?“
„Ihm werde ich schreiben. Weißt du, ich denke mit großer Dankbarkeit an ihn. Du großer Gott, wenn ich ihn damals nicht getroffen hätte - wenn er mir nicht so phantastisch geholfen hätte. Ach, wenn ich bloß seine Adresse wüßte, ich möchte ihm so gern danken, richtig danken, jetzt, wo ich die schreckliche Zeit hinter mir habe, jetzt, wo ich so glücklich bin! Oh, er wird sich bestimmt freuen, wenn er hört, wie gut es mir geht!“
„Schreib doch an seine Lübecker Adresse“, schlug ich vor. „Seine Mutter wird den Brief schon weiterleiten, sie wird wohl eine Adresse haben.“
„Ja, du hast recht, das werde ich tun.“
„Ich dachte.“, fing ich an, aber ich kam nicht weiter.
„Was dachtest du?“
„Nun ja - daß du in Ingo verliebst warst!“
„Eine Zeit dachte ich es auch selbst. Aber jetzt sehe ich klarer. Das war keine Verliebtheit, es war eine unbeschreiblich große Dankbarkeit - und dann das Gefühl, daß ich in ihm den notwendigen
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