Kleiner Hund und große Liebe
Hand. „Was wolltest du fragen, mein Kind?“
„Onkel Isaac“, Miriam machte eine kleine Pause, „wann hattest du den letzten Brief von meinem Großvater?“
„Im Frühjahr 1939 - Damals hatte er große Sorgen und bangte um die Zukunft.“
„Da existieren aber drei Briefe von einem späteren Datum“, erklärte Miriam. „Er schrieb sie an Muttis Pflegeeltern, und Mutti hat sie noch!“
„Kind, wir müssen zu deiner Mutter! Herrgott, soll ich die kleine Ruth wiedersehen! Sie war zwei Jahre damals - ein süßes kleines Ding.“
Miriam nahm wieder das Fotoalbum, suchte eine bestimmte Seite und reichte es dem Onkel.
„So sieht Mutti jetzt aus - Onkel Isaac.“ Wieder hatte sie eine kleine Pause vor der ungewohnten Anrede gemacht.
Herr Kalinic sah sich das Bild aufmerksam an, strich sich über die Augen.
„Sie ähnelt ihrem Vater. Sie ähnelt ihm enorm - seine Stirn, seine Augen, und die geraden Augenbrauen.“ Er räusperte sich, und wieder zitterte der weiße Kinnbart.
Dann nahm er sich zusammen und wandte sich wieder an seine Großnichte.
„Miriam, mein Kind, paß mal auf. Nun packst du ein paar Sachen zusammen, Nachtzeug und so was. Und wir rufen Daniel an, er soll uns abholen - nein, ich fahre selbst nicht mehr Auto, ich bin mit der Bahn gekommen. Und du kommst mit nach Hause, heute abend triffst du zwei Tanten und einen Onkel. Ja, da gibt es noch einen Onkel, er lebt in Würzburg, es ist Daniels Vater. Daniel ist nur zu Besuch bei mir. Er sollte einen verspäteten Sommerurlaub bei mir verbringen, und dann hat der Kerl einen Ferien job angenommen bei dieser Funk- und Fernseh-Firma; er ist Fernsehtechniker von Beruf. Also, er holt uns ab, und wir rufen deine Mutter an, das heißt, du rufst sie an und sagst, daß du sie morgen besuchst. Nur damit wir wissen, daß sie zu Hause ist. Darf ich ihr Telefon benutzen, gnädige Frau?“ wandte er sich an Mama.
„Und ob!“ lächelte Mama. „Und ich werde nun sehen, daß ich ein halbwegs brauchbares Mittagessen auf die Beine stelle. Sie essen doch mit uns? Ihr Enkel braucht wohl etwa eine Stunde, um herzufahren?“
Mama ist einmalig
Es war Abend.
Marcus hatte sich mit Anton zurückgezogen, er war nach einem Tag, von anstrengendem Indianerspiel ausgefüllt, so müde, daß er beim Abendessen kaum die Augen aufhalten konnte. Nun saßen Mama und ich in unserem fernsehlosen Wohnzimmer und genossen die Stille und Ruhe nach einem so überaus ereignisreichen Tag.
Kurz nach dem Mittagessen war Daniel aufgekreuzt, strahlend und munter, hatte Miriam umarmt und sie mit „Cousinchen“ angeredet. Er hatte mit uns Kaffee getrunken, und dann hatten die drei sich aus dem Staub gemacht.
„Es ist mir alles so unbegreiflich, Mama“, sagte ich. „Wie ist es bloß möglich, daß man Familie hat, ohne es zu ahnen? Ich dachte, daß das Rote Kreuz wahre Wunder getan hat, wenn es sich darum handelte, verschollene Familienmitglieder aufzuspüren - und niemand wußte, daß Miriams Mutter in Schweden gelandet war.“ „Um das richtig zu verstehen, glaube ich, müßte man die schreckliche Zeit erlebt haben“, meinte Mama. „Ich habe sie ja auch nicht bewußt erlebt; wie du weißt, wurde ich in dem Jahr geboren, als der Krieg ausbrach. Aber deine Omi hat mir von diesen Jahren erzählt, und andere Menschen ihrer Generation. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Menschen nach dem Krieg verzweifelt nach ihren Angehörigen suchten! Nach Kindern, die während der Flucht verschwunden waren, nach Söhnen und Ehemännern, die im Krieg gewesen waren und von deren Schicksal man nichts wußte - und dann die unzähligen Juden, die in Konzentrationslager gekommen waren.
Was das Rote Kreuz und andere Suchdienste geleistet haben, ist unwahrscheinlich! Dann muß man verstehen, daß auch hin und wieder etwas schiefgehen konnte. Was weiß ich, sind die entscheidenden Papiere durch Kriegsereignisse vernichtet worden, oder ist die Person, die die Sache mit der kleinen Ruth Kalinic behandelte, vielleicht ums Leben gekommen? Es gibt unzählige Möglichkeiten und Erklärungen.“
„Was für ein Glück, daß unser Fernsehapparat streikte“, sagte ich. „Sonst wäre der Daniel gar nicht hergekommen, und Miriam hätte ihre Familie womöglich gar nicht gefunden!“
„Und gerade für sie bedeutet es unendlich viel“, sagte Mama nachdenklich. Ich nickte.
„Ja, das hat Miriam mir auch gesagt. Und weißt du, nicht nur Miriam ist glücklich. Ihr lieber alter Großonkel war so gerührt, so
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