Kleiner Musicalratgeber für Anfänger und Fortge
Denn von den Männern in den weißen Kitteln möchte ich nur ungern abgeholt werden. Außer, sie sind nett, ledig sowie solvent und assoziieren mit dem Begriff »Musical« nicht nur singende Hupfdohlen.
Meine geistige Gesundheit wurde übrigens schon des Öfteren angezweifelt – auch von mir selbst! Zuletzt war das der Fall, als ich laut darüber nachdachte, mit einigen meiner Leidensgenossen eine Wohnung anzumieten und eine Musicalitis-WG zu eröffnen. Selbstverständlich in musicaltechnisch attraktiven Städten wie Hamburg, Stuttgart und London. Aber hey, das wäre letztendlich wahrscheinlich wirklich ein Mittel zur effektiven Kostensenkung, denn dann würden immerhin die Kosten für Anreise und Hotelübernachtungen wegfallen. Soll mir also niemand mehr sagen, ich denke nicht zumindest mal über Sparen nach!
Aber auch die positiven Aspekte sollten wir nicht unter den Tisch kehren: Wesentlicher Bestandteil eines jeden Musicalerlebnisses ist es doch, dass wir immer wieder Menschen treffen, denen es genauso geht wie uns. Diese erhebende Erkenntnis, dass wir nicht alleine sind mit unseren Empfindungen, wirkt zumindest auf mich ungemein beruhigend. Immer wieder begegnen wir bei Events wie En-suite-Musicalbesuchen, Galas, und Freilichtbühnen-Produktionen denselben Leuten, was eine gewisse Vertrautheit und auch Sicherheit schafft. Oft stellt sich sogar ein gewisses »We are family!«-Gefühl ein. Darüber hinaus entwickeln sich aus der Begegnung mit Gleichdenkenden langjährige Freundschaften. Und dieses daraus erwachsene Gemeinschaftsgefühl ist es, was für mich definitiv einen großen Teil der Musicalitis ausmacht.
Wer kennt es nicht, dieses wochenlange auf-ein-Ereignis-Hinfiebern? Die Vorfreude, die unseren Alltag bunt macht und uns auch stressige Zeiten gut überstehen lässt? Dann auf einmal ist das lang herbeigesehnte Event schließlich da und wir nehmen es euphorisch wie im Rausch wahr. Erstaunlich, wie die Zeit verfliegt, wenn wir Spaß haben und uns amüsieren! Und natürlich begleiten uns die tollen Erinnerungen daran noch eine Weile. Sie können uns den Übergang in den ganz normalen Alltag zwar leichter machen, aber uns letztendlich nicht davor bewahren, dass wir die Diskrepanz zwischen dem Besonderen, was wir erlebt haben, und dem Alltäglichen, was uns schon am nächsten Tag wieder erwartet, als besonders krass empfinden.
Wahrscheinlich ist es diese Diskrepanz, die bei mir zu der zu Beginn geschilderten Situation des »Katzenjammers« führt. Es ist »die große Leere einer unstillbaren Gier«, um mit einem Musicalzitat aus »Tanz derVampire« zu sprechen: Natürlich ist man nach solchen Erlebnissen müde und wenig motiviert, seinen Alltag wieder anzugehen. Andererseits ist es eben auch jener Alltag, der die besuchten Events besonders macht. Und genau deshalb bin ich froh, an Musicalitis zu leiden! Es gibt wahrhaft schlimmere Laster, oder? Mittlerweile gelingt es mir, völlig gelassen einzugestehen: »Ja, ich bin infiziert – aber ich habe mich dabei nie besser gefühlt!«
Musicalitis: Der Versuch einer Definition
Jetzt, wo wir der Sucht nach immer mehr Musical einen Namen gegeben haben, wäre es doch überaus praktisch, wenn man die Musicalitis von irgend jemandem mit Autorität – etwa einem Arzt, einem Professor oder einem anderen Wissenschaftler – bestätigt bekommen könnte. Dann würde man vielleicht in seinem Freundes- Bekannten- und Familienkreis nicht ganz so oft unter Rechtfertigungsdruck stehen, wenn es mal wieder darum geht, wieso zum Teufel man sich eigentlich zum zwanzigsten Mal »Wicked« anschaut. Denn dann wäre für Außenstehende ja klar: Sie muss, sie kann gar nicht anders. Für sie ist das Buchen von Tickets keine Option, sondern geradezu Obsession, jedoch mit therapeutischer Wirkung.
Eine Definition bzw. eine Erklärung, wie sie meiner Ansicht nach dringend in medizinische Ratgeber aufgenommen werden sollte, könnte in etwa so aussehen. Bereit? Here we go...
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Musicalitis ist, wie jeder renommierte Arzt von Rang und Namen zweifellos bestätigen wird, ein häufig auftretendes Phänomen. Darunter versteht man die Sucht, Musicals im Allgemeinen und alle damit verbundenen Aspekte im Besonderen möglichst oft und auch zum wiederholten Mal zu erleben; entgegen der eigenen Ratio, die dieses Verlangen als unvernünftig bewertet. Einmal mit dem äußerst ansteckenden und aggressiven Virus infiziert, ist die Möglichkeit der vollkommenen Rekonvaleszenz so gut wie
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