Kleiner Werwolf - Funke, C: Kleiner Werwolf
etwas.
Mit zitternden Knien erhob er sich vom Badewannenrand und stellte sich noch einmal vor den Spiegel.
»Hallo«, sagte er zu seinem Spiegelbild.
Das Einzige, was unverändert war, war seine Nase. Die Augenbrauen waren buschiger. Backen und Kinn waren bedeckt mit feinen grauen Haaren. Und als Motte ein Lächeln versuchte, schoben sich zwei spitze Reißzähne über seine Unterlippe.
Das Schlimmste aber waren die Augen. Wilde gelbe Augen.
Jemand klopfte an die Badezimmertür.
»Moritz!«, rief seine Mutter. Sie war die Einzige, die ihn so nannte. »Was treibst du denn da drinnen so lange? Dein Vater und ich wollen auch noch mal ins Bad. Wir sind heute Abend eingeladen.«
»Bin sofort fertig!«, sagte Motte. Das heißt, es wurde mehr ein Knurren.
»Mein Gott! Hast du dich erkältet?«, fragte seine Mutter. »Deine Stimme hört sich ja furchtbar an.«
»Verschluckt«, knurrte Motte. Seine gelben Augen leuchteten in der Dunkelheit.
»Um Himmels willen, verschluckt? Du hörst dich an wie ein wildes Tier!«, sagte seine Mutter. »Komm jetzt bitte raus, ja?«
»Bin noch auf dem Klo!«, raunzte Motte und zog die Spülung.
»Na gut, aber beeil dich!« Ihre Schritte entfernten sich.
Motte starrte sein Spiegelbild an und wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Ich muss mit Lina sprechen, dachte er. Aber zuerst muss ich unauffällig in mein Zimmer kommen.
Vorsichtig lehnte er ein Ohr gegen die Badezimmertür.
Sein Gehör funktionierte ausgezeichnet. Viel besser als früher.
»Ich glaub, ich muss morgen mal mit dem Jungen zum Arzt!«, hörte er seine Mutter in der Küche sagen. Ganz deutlich. Er hörte sogar, wie ihr Kleid knisterte, als sie sich setzte.
»Ach, immer rennst du gleich mit ihm zum Arzt«, brummte sein Vater. »Du verpäppelst den Jungen. Und das, wo er sowieso nur eine halbe Portion ist.«
»Aber seine Stimme!«, sagte Mama. »Du hättest seine Stimme hören sollen. Richtig gruselig.«
Sein Vater lachte. »Für den Stimmbruch ist es eigentlich noch ein bisschen früh.«
»Wahrscheinlich spielt er den Kranken, damit er morgen nicht den Mathetest schreiben muss«, meinte Paul.
Sie waren also alle noch in der Küche.
Motte öffnete die Badezimmertür, schob vorsichtig den struppigen Kopf hinaus und huschte um die Ecke in sein Zimmer.
Tür zu. Abschließen. In Sicherheit.
»Moritz?«, rief Mama aus der Küche. »Soll ich dir eine heiße Milch machen?«
»Nein!«, rief Motte zurück.
»He, der klingt ja gefährlich«, sagte Paul.
Motte öffnete hastig das Fenster. Kalte Luft kühlte sein pelziges Gesicht. Draußen baumelte an einer Wäscheleine Linas Nachrichtenrohr. Aber gerade, als Motte es ins Zimmer ziehen wollte, kam auf der anderen Straßenseite jemand vorbei. Ausgerechnet Frau Dinkelbier, die neugierigste Frau der Welt. Motte duckte sich so, dass er noch gerade übers Fensterbrett gucken konnte. Wenn die Dinkelbier ihn sah, würde in zehn Minuten die Feuerwehr vor der Tür stehen und nach einem Monster suchen. Nachdem sie in ein paar Fenster geschielt hatte, überquerte Frau Dinkelbier die Straße und verschwand im Haus. Sie wohnte im dritten Stock, direkt unter Linas Eltern.
Für ein paar Augenblicke war die Straße menschenleer. Nur eine Katze schlich zwischen den geparkten Autos herum. Als sie Motte sah, fauchte sie und verschwand eilig unter einem Wagen. Motte zog das Nachrichtenrohr ins Zimmer und duckte sich wieder.
Das Ding war Linas Idee gewesen. Für Geheiminformationen. Oder, wenn sie nachts beide nicht schlafen konnten. Es war eine Briefrolle mit Deckel, beklebt mit Plastikfolie, damit sie nicht durchweichte, wenn es regnete. An einer Plastikwäscheleine hing sie aus Linas Fenster. Oben war eine Glocke dran, damit es bei Lina klingelte, wenn Motte unten etwas in die Rolle tat. Wollte Lina etwas schicken, ließ sie das Ding einfach gegen Mottes Fenster schwingen.
Mit seinen neuen Krallen bekam Motte die Rolle ganz leicht auf. Er warf eine rote Murmel hinein. Lina würde sofort wissen, was das bedeutete: Dringend treffen im Geheimversteck, Alarmstufe Rot.
Als Motte die Rolle aus dem Fenster warf, hörte er es oben bei Lina bimmeln. Hoffentlich war sie in ihrem Zimmer. Hoffentlich, hoffentlich, hoffentlich! Meistens saß sie um diese Zeit vor dem Fernseher.
Er hatte Glück. Zum ersten Mal an diesem scheußlichen Unglückssonntag. Mit einem Ruck verschwand die Rolle nach oben. Motte war so erleichtert, dass er fast vergaß, sich wieder unters Fensterbrett zu
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