Kleines Lexikon psychologischer Irrtümer - von Abhängigkeit bis Zwangsneurose

solche Unkenrufe aus den Nebelschwaden des Zeitgeistes sind Sie sicherlich erhaben. Schließlich sitzen Sie im Extrazug des Lebens und sind nicht so dumm gewesen wie Therapeuten, die 10.889
Stunden und 75.000 Euro in eine fragwürdige Ausbildung investiert haben, deren Effizienz nahe Null ist. Schon in der Pubertät durften Sie genüsslich miterleben, wie spannend es sein kann, Krankheit als Waffe einzusetzen. So manches Ihrer Ziele haben Sie dabei spielend erreicht. Und so manche Party wurde erst durch Ihren Ohnmachtsanfall zum Ereignis. Einige Rettungssanitäter lernten erst von Ihnen, echte epileptische Anfälle von hysterischen Anfällen zu unterscheiden.
    Verzicht, Enthaltsamkeit, Versagen von Bedürfnissen oder gar »Erhöhung der Frustrationstoleranz«? Mit so einem langweiligen Kram geben Sie sich erst gar nicht ab. Sie haben sich ganz dem Abenteuer der lebenslangen Adoleszenz verschrieben.

I

    ICD-10
    Meint das aktuelle Klassifizierungssystem der Psychiatrie.
    Schon bei oberflächlicher Lektüre fällt auf, dass kein Gefühl, keine innere Regung, keine Form von Unbehaglichkeit ausgelassen wird, um diese als Symptom einer Erkrankung zuzuordnen. Ähnlich wie Wolfgang Leonhardt es in seinem Politklassiker über den sowjetischen Kommunismus ausdrückt (»Jedes, und ich betone jedes – wirklich jedes Wort wurde politisch gewertet«) gilt für das aktuelle psychiatrische Klassifikationssystem: Jede Befindlichkeitsstörung kann psychiatrisch verwertet werden.
    Impulskontrollstörung
    Der Betroffene kann den Impulsen, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, kaum widerstehen.

    Rasten Sie manchmal schon bei Kleinigkeiten aus, bringt Sie das undisziplinierte und schlafmützige Verhalten mancher Verkehrsteilnehmer zur Weißglut, und kommt es deshalb innerhalb der Familie regelmäßig zu Streitereien? Und gibt es wegen Ihres aufbrausenden Verhaltens ständige Querelen am Arbeitsplatz?
    Geben Sie sich jetzt bloß keinen selbstquälerischen Grübeleien hin. Sie können aufatmen, schließlich können Sie nichts dafür. Ist genetisch bedingt. Nennt man Impulskontrollstörung. Was auch besser ist, seien Sie froh, dass Sie in der Gegenwart leben. Vorbei die Zeit, als man sich von irgendwelchen lebensuntüchtigen Analytikern die übliche Phrasendrescherei von mangelnder Frustrationstoleranz, Verwöhnung in der Kindheit oder ähnlichen Mist anhören musste. Sie nehmen einfach das, was bei störenden aufsässigen Kindern selbstverständlich geworden ist: Ritalin. Merke: Eine kleine Prise Ritalin am Morgen, und der Tag wird ohne Sorgen.
    Intelligenz, emotionale
    Emotional in jedem Fall, aber nicht unbedingt intelligent. Immer schön brav sagen, »was man gerade empfindet«, damit gelangt man sicher an sein Ziel. Genauso sicher, wie Hella von Sinnen demnächst eine Professur für Ästhetik bekommt.

K

    Katathymes Bilderleben
    Die psychologische Deutung von Szenen und Bildern, die die Patienten sich tagtraumartig vorstellen.
    Patienten sollen über ihre Assoziationen beim Betrachten von Bildern erzählen, welche dann von dem aus der Solidarkasse bezahlten Geschichtendeuter interpretiert werden. Eine weitere Quelle für die psycho-mythologische Mottenkiste.
    Kindheit
    Wer lange sucht, der findet, besonders in der Kindheit. Wenn nebulöse Erinnerungen im psychotherapeutischen Prozess zur Wahrheit verdichtet werden, dann geht es um die Kindheit, die Keimzelle allen Übels. Sich richtig oder sich falsch erinnern – vollkommen egal. In jedem Fall droht Aufarbeitung bis zur Senilität.
    Kindheit, schlimme
    Die wahre Ursache für den Zweiten Weltkrieg, den Holocaust und den Archipel Gulag. Denn Hitler und Stalin hatten eine schlimme Kindheit. Weiß die Hirnforschung. Und diese weiß auch, dass die beiden Diktatoren – wahrscheinlich Diktatoren und Gewaltverbrecher überhaupt – psychisch krank und somit vermindert schuldfähig sind.
    Die neurobiologische Aushebelung der Schuld – das tut den Menschen richtig gut. Damit endlich alles normal wird, egal wie verquer und zurechtgedacht es auch sein mag. Gender-Mainstream schafft das Geschlecht ab und die Neurobiologie die Schuld. Und Tschüss Verantwortung.
    Kleptomanie
    Triebhaftes Stehlen von Konsumartikeln ohne Wunsch der Bereicherung.
    So gut wie nie tatsächlich existierende Krankheitsentität, sondern seit Etablierung der Psychoanalyse das Schutzschild für delinquente Zeitgenossen, um von eigener Schuld abzulenken.
    Konfabulation
    Bericht von erfundenen Begebenheiten zur