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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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ihr zur ‹Diffamierung› der anglo-amerikan. Moral gebrauchen zu können glaubt, * Cronin s Die Sterne blicken herab, * Linklater s Juan in Amerika; 1 * Gone with 2 the wind ist verboten (wie engl. Bücher in ihrer Gesamtheit überhaupt), u. wo niemand nachprüfen kann, was drinsteht, da erhebt ihr Anschuldigungen. Er sagt dann, die für die Yankee-Unmoral Herangezogenen seien Südstaatler, er deutet in ein paar Worten an, daß Moral, nicht Unmoral gepredigt wird, er unterstreicht, daß * Lincoln um der USA-Einheit willen primo loco den Krieg geführt habe, nicht aus erheuchelter Liebe zu den Sklaven oder aus bloßem Geschäftsinteresse. Auch sei die südstaatliche Aristokratie weniger Ideal gewesen, als der Artikelschreiber glauben lass lasse. –
    Schaurig grotesker Todesfall. Im Hause wohnt ein uralter, weißhaariger, weißbärtiger, klapprig schleichender alter Jude, * Grünbaum, 88 Jahre. Ich sah ihn einmal unten,als Frisch Frischmann noch frisierte, ein andermal von seiner ein Dutzend Jahre jüngeren * Frau auf der Straße geführt. Vor ein paar Wochen schien er im Sterben. * Katz kam häufig u. beschrieb mir drastisch, wie geschwollen er von der Wassersucht sei. (Man sieht den Penis nicht mehr.) Der Mann wurde gesund, u. in der Nacht zum 22. November starb seine Frau am Schlaganfall. Jetzt ist der hilflose Alte ganz allein u. wwird nun wohl nach Theresienstadt gebracht werden, sofern man sich nicht den Umweg erspart u. ihn schon im Polizeipraesidium beseitigt.
    Bis vor einigen Monaten sah man häufig ein Plakat: Der Sieg wird unser sein!, Reichsadler die Schlange tretend. Eben dieses Bild ist auf einer Sondermarke zum 9. Nov. 44 erschienen (unten: Großdeutsches Reich, oben: Gedenke des 9. Nov. 1923). Ich wünschte mir die Marke, weil ich trotz alledem – u. wahrscheinlich wieder irrtümlicherweise – glaube, daß es die letzte nazistische Sondermarke zum 9. XI. sein werde. * Steinitz hat sie mir geschenkt.
     

 
    Sonnabend Morgen 25. XI. 44
     
    Seit vorgestern wieder ein wenig Hoffnung: die große englisch-amerikan. Offensive von Basel bis Holland – gestern Straßburg. Aber nichts läßt sich berechnen. –
    Sehr verärgert über * Simon. Ich hatte ihn längst im Verdacht nachlässiger Arbeit. Jetzt fiel mir eine Plombe nach drei Tagen heraus. Ich ging gestern zu ihm, er ließ sich als krank verleugnen – der weite Weg war umsonst gemacht, die Gefahr einer neuen Entzündung ist gegeben.
    Gewiß S. s Krankheit ist nur halb geheuchelt. Er ist zuckerkrank ohne Diätmöglichkeit, er friert, weil die Dampfheizung seiner Wohnung entzwei u. ein anderer Ofen nicht aufzutreiben ist. Aber er erzählte mir neulich selber, am Ende der Woche suche er sich zu kurieren, u. er wolle jetzt keine Kundschaft. Er weiß natürlich, daß man als Jude gezwungen ist, sich an ihn allein zu halten. Ich bin recht erbittert – zumal er ein eingebildeter Schwätzer mit unmöglichem Benehmen ist.
     

 
    Sonntag 26. Nov. 44. Spätnachm.
     
    Gestern Mittag ¾ 12–½ 1 Alarm, nach wenigen Minuten Keller. In großer Entfernung, aber sehr deutlich, u. also doch nicht weitab wurde eine gute halbe Stunde lang pausenlos u. heftig geschossen. Also muß es sich um einen sehr ernsten Angriff gehandelt u. in unserer Nachbarschaft wieder Zerstörung u. Tod gegeben haben – aber niemand erfährt, wo – alles wird verschwiegen. (Höchst charakteristisch: in den Todesanzeigen nach dem Angriff auf Dresden wurde Dresden nie genannt, es hieß immer nur durch tragisches Geschick entrissen. Dagegen liest man hier häufig, daß jemand einen Angehörigen durch Terrorangriff auf Darmstadt oder München etc. verloren hat. Über den eigenen Bezirk also wird man im Dunklen gehalten.) – Wir sind auch sonst im Dunkeln. Englischer Funk behauptet, die Amerikaner hätten bei Mühlhausen den Rhein überschritten, 1 deutscher Funk: sie seien bei Basel abgeschnitten u. eingeschlossen. –
    Heute um ½ 11, das nahm mir den Vormittag, wurde * Cohn beerdigt. Peinlich, der lange Mensch in so kleinem Urnenbehältnis. Und das sinnlose Gequassel * Jacobys. Lauter Clichéphrasen, so blödsinnig durcheinander, als habe ein Kind sie in einzelnen Sätzen irgendwo ausgeschnitten u. sie dann, ohne sie lesen zu können, willkürlich zusamengefügt. Wie glücklich sind die Katholiken, wie gern wäre ich katholisch. Aber mir fehlt absolut die Gnade des Glaubenkönnens.
    Cohn starb an Mandelabsceß u. Sepsis, u. an Mandelabsceß u. Grippe liegt jetzt * Stühler. * Katz,

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